„Manchmal sind wir etwas boulevardesker“

Neuer Sport1-Chefredakteur Dirc Seemann

04.12.2015 Dirc Seemann spricht über den Reiz, ein Multiplattform-Medium wie Sport1 als Chefredakteur zu leiten und macht angehenden Sportjournalisten Mut.
 
Dirc Seemann, 50, hat am ?1. August die redaktionelle Leitung bei Sport1 übernommen. Der gebürtige Kieler begann seine journalistische Karriere beim Kölner Express. 1993 wechselte er zum Fernsehen und arbeitete für verschiedene Sender. Seit 2008 gehörte er zum Kommentatoren-Team von Sport1.

sportjournalist: Herr Seemann, fiel Ihnen der Wechsel vom Kommentatorenstuhl in den Chefsessel schwer?

Dirc Seemann: Mein neuer Job ist komplexer und deshalb eine sehr spannende Aufgabe. Ich kommentiere jetzt nur noch das, was die Kollegen kommentieren. Der Wechsel ist mir auch nicht schwer gefallen, weil ich die Managementaufgaben eines Chefredakteurs gerne mitbesetze. Das hat mir früher eher gefehlt, als dass mir jetzt das Kommentieren fehlt.

sj: Mit welchen Plänen und Ideen begannen Sie im August Ihren neuen Job?

Seemann: Das Schöne für mich ist, dass ich im Gegensatz zu meinen Vorgängern in ein bereits erfolgreich aufgebautes Multiplattform-Medium gekommen bin. Davor stand ja noch die Herausforderung, uns für die digitale Zukunft aufzustellen, das heißt, die verschiedenen Bausteine zu integrieren, also Fernsehen, das Online- und das verstärkt aufkeimende Mobile-Geschäft sowie Radio und Social Media. Diese Aufgabe war sehr kompliziert. Bei mir geht es nun darum, diese Dinge weiterzuführen, insbesondere den Integrationsprozess in unserer 360-Grad-Welt. Der hat absolute Priorität. Ich musste nicht bei null anfangen, sondern es geht darum, die Abläufe weiter zu optimieren.

sj: Also wussten Sie genau, was auf Sie zukommt?

Seemann: Ich habe diesen Prozess schon als Kommentator am Mikrofon verfolgt und gedacht, es könnte eine sehr spannende Aufgabe sein, eine, die über klassische Chefredakteurs-Aufgaben, mit denen auch ich groß geworden bin, deutlich hinausgeht.

sj: Sie hatten einst bei der ProSieben/Sat.1-Gruppe als Leiter Sportnachrichten die Zusammenlegung der Sportnews-Bereiche von Sat.1, ProSieben, kabel eins und N24 koordiniert. Hilft Ihnen diese Erfahrung nun bei Sport1?

Seemann: Auch damals kamen verschiedene Unternehmen zusammen, das ist vielleicht ähnlich. Aber sonst ist da schon ein großer Unterschied. Es hilft mir aber insofern, als dass ich auch hier noch bestimmte Redaktionsbereiche besser kennenlernen musste. Ich war dem Hause hier zwar schon als Kommentator verbunden, aber da nimmt man an den Abläufen ja nur teilweise und nicht übergreifend teil.

sj: Sie haben von einer Optimierung der Abläufe gesprochen. Wo gibt es da noch Ressourcen?

Seemann: Wichtig ist, dass alle Kollegen verstehen: Der Journalismus hat sich in den vergangenen sechs, sieben Jahren enorm geändert. Es ist nicht mehr so wie früher, dass für mich nach Abgabe des Artikels oder des Fernsehbeitrags der Arbeitstag beendet war. Jetzt geht es um die Weiterverwertung. Ich muss an die Kollegen von den Sozialen Medien und von Online denken, mir überlegen, ob vielleicht noch etwas dabei ist, was man am Samstag im Radio verwenden kann. Wichtig ist, dass ich diese Verwertungskette verinnerliche. Unsere Volontäre haben diesen 360-Grad-Blickwinkel automatisch, den sich möglicherweise der eine oder andere Kollege, der lange in nur einem Genre gearbeitet hat, erst aneignen muss.

sj: Eine Gefahr, die dieser Allroundjournalismus birgt, ist aber zunehmende Oberflächlichkeit, weil die Zeit für gründliche Recherche fehlt.

Seemann: Ich gebe zu, dass das eine oder andere in der Prüfung etwas nachlässiger gehandhabt wird, weil alles etwas schneller sein muss, aber das betrifft nicht nur Sport1. Als relativ junges Medium müssen wir aufpassen, wie wir wahrgenommen werden. Deshalb gibt es den großen journalistischen Ansatz der aufmerksamen und präzisen Bearbeitung. Manche Kollegen bei uns haben eher einen boulevardesken Ansatz, andere kommen aus dem Agenturgeschäft. Diese Bandbreite spiegelt das wider, was wir zeigen wollen: schöne, gut recherchierte Hintergrundgeschichten, aber auch Themen anstoßen. Dass wir manchmal etwas boulevardesker sind, entbindet uns ja nicht davon, dass die Geschichte stimmt. Es geht eben alles nur etwas schneller, aber das bringt manchmal ja einen Vorteil gegenüber Printkollegen.

sj: Wenn von einer Verzahnung einzelner Redaktionen die Rede ist, geht die Angst bei Kollegen um, dass damit eine Personalreduzierung verbunden ist. Können Sie diese Sorgen in der Branche nachvollziehen?

Seemann: Ich kann einfach nur sagen, dass man das Thema mit Optimismus angehen sollte. Wir haben 50 feste Stellen, mit den festen Freien sind es insgesamt 120 Kollegen. Das ist, wie ich finde, eine beachtliche Zahl. Dem Nachwuchs in den verschiedenen journalistischen Studienzweigen zeigt unser Beispiel, dass es doch noch eine gute Möglichkeit gibt, im Sportjournalismus einen Job zu bekommen.

sj: Sport1 hat mittlerweile nicht nur viele Rechte an Randsportarten, sondern zum Beispiel auch an der NBA oder der Europa League im Fußball.

Seemann: Die Rechte, um die wir uns bemühen, spiegeln unsere Möglichkeiten aufgrund unserer multimedialen Aufstellung wider. Wir haben ja nicht nur den Free-TV-Sender Sport1, sondern zwei weitere Kanäle, die großflächig mit viel Live-Sport bestückt sind: Sport1 US und Sport1 +. Bei uns laufen in einer Woche sicher 30 verschiedene Sportarten. Allein auf unserem Free-TV-Kanal haben wir den Live-Sport von 2008 mit etwas über 600 Stunden auf 1400 Stunden jährlich ausgebaut. Deshalb verbreitert sich das Spektrum bei uns immer mehr.

sj: Das Sahnehäubchen wäre es aber natürlich, Champions-League-Spiele zu übertragen oder gar die Rechte an der Bundesliga zu erwerben. Könnte das für Sport1 ein Thema werden?

Seemann: Zum einen freuen wir uns natürlich über die Akzeptanz der Europa League, die Zahlen sind vergleichbar mit den Ergebnissen von kabel eins, der als Sender tendenziell aufgrund seiner Grundseherschaft in einer anderen Liga ist. Natürlich haben wir ein grundlegendes Interesse an hochklassigen Sportrechten. Aber ob wir dann am Ende bestimmte Pakete erwerben können, hängt auch von der Finanzierbarkeit und der jeweiligen Konkurrenzsituation ab.

sj: Gilt das auch für die nächsten Bundesliga-Rechte?

Seemann: Wir haben ja mit der Nachverwertung einen bestimmten Status quo, den wir behalten wollen. Mit einer Sendung wie Bundesliga Pur haben wir in der Spitze schon über eine Million Zuschauer am Sonntagvormittag gehabt. Die Ausschreibung ist aber nicht publik. Wir wissen noch nicht, was genau kommt. In der Tat werden wir auch da unser Interesse hinterlegen, insoweit es für uns umsetzbar ist. Detailliert können wir allerdings noch nichts sagen, weil die Pakete noch nicht vorliegen.

sj: Eines der Flaggschiffe von Sport1 ist der Fußball-Talk Doppelpass am Sonntag.

Seemann: Nicht nur das Flaggschiff von Sport1, ich würde sagen, der Doppelpass ist das Flaggschiff im deutschen Sporttalk. Aber auch übergreifend im Talk-Bereich müssen wir uns mit durchschnittlich einer Million Zuschauer nicht verstecken.

sj: Muss man nicht auch Flaggschiffe manchmal modernisieren, verändern?

Seemann: So ein Erfolgsformat kann man nur peu à peu verändern. Der Doppelpass braucht eine Wiedererkennung. Aber neben Thomas Helmer als neuem Moderator, und das ist schon eine prägende Neuerung, haben wir in dieser Saison schon einige Kleinigkeiten geändert, zum Beispiel im Set-Design.

Mit Dirc Seemann sprach Elisabeth Schlammerl