Nachruf auf Werner Kirschstein – „Kirsche“ oder niemand geht so ganz

Verband Westdeutscher Sportjournalisten (VWS)

29.12.2016 Werner Kirschstein war ein passionierter Reitsport-Journalist. Er kam viel herum, liebte das Leben. Lange Zeit engagierte er sich im Verband Westdeutscher Sportjournalisten (VWS) und dem Verband Deutscher Sportjournalisten (VDS). Nun ist „Kirsche“ 67-jährig im Krankenhaus in Olfen verstorben.
Autor: Dieter Ludwig
Na endlich. Monatelang nichts gehört, nichts gesehen. Jetzt ging er endlich mal wieder ans Handy und meldete sich. Doch nicht wie früher. Früher sagte er, da er ja jede Rufnummer im Kopf hatte und auf dem Display sah: „Hallo Dieter, hier Kirsche vonne Bild.“ Die Stimme diesmal klang ganz anders, weit weg, gleichgültig, ohne Gefühl. Er könne nirgendwo mehr hinkommen, habe nun einen Rollator, kein normales Telefon mehr, nur noch Handy, sagte er.

Früher voller Tatendrang beschrieb er seinen Aufenthaltsort, er sei gerade auf dem Weg zu Tresen 1, zu Tresen 2 oder Tresen 3. Wo er wohnte, hatten die Kneipen keinen ursprünglichen Namen mehr. Er gab ihnen Nummern, wie er sie gerade anlief. An jenem Morgen nach unserem letzten Gespräch ging er nirgendwo mehr hin. Er sagte auch nicht, was er gerade machte, ob er las, ob er wieder mal einen Fehler in seiner geliebten Bild entdeckt hatte. Er sagte nur, ich solle mich wieder mal melden, keine Grüße an jemanden, nichts. Werner Richard Kirschstein, den alle Welt nur „Kirsche“ nannte, der das Leben so liebte, hatte abgeschlossen (Foto: Werner Kirschstein, Mitte, mit den damaligen VWS-Vorstandskollegen Werner Hansch, links, und Hartmut Reeh / Foto: Kurt Keil).

„Kirsche“, so hatte er sich der Kollegenschar auf Reitturnieren vorgestellt und vor allem beim weiblichen Geschlecht („Ich bin die Kirsche vonne Bild – und mach sie alle wild“), war irgendwann da. Keiner weiß genau wann und wo. Wenn er da war, hörte man das. Kirsche bediente nie eine Schreibmaschine, schon gar kein Laptop in der Nachfolgezeit. Kirsche brauchte kein Telefax oder sonst etwas zum Übermitteln, Kirsche diktierte direkt in die Maschine einer Sekretärin am anderen Ende der Telefonleitung, wo sie gerade saß, ob in der Hauptredaktion Hamburg oder einer Regionalausgabe. Mit Punkt und Komma, auf die festgelegte Zeile. Und bei Bild sind zehn Zeilen eine Story, aber viele schaffen das nicht. Zehn Zeilen, eine Geschichte, wohlgemerkt. Das können heute eher wenige. In zehn Bildzeilen eine Aussage zu tätigen.

Kirsche galt von Anfang an als Unikum. 1993 organisierte Uli Werner („Mein erster Ausbilder“) eine wunderbare Reise für Reitsport-Journalisten nach Ungarn. Vorher erbettelten wir aus der Truppe der sogenannten „Hipposophen“ irgendwelche Ehrenpreise, Pokale, Silbertabletts, besondere Bücher, Pferdedecken oder Zaumzeug bei uns bekannten Sponsoren und Turnierveranstaltern. Zwei hatten dann beim Internationalen Offiziellen Springreiter-Turnier (CSIO) von Ungarn – also vergleichbar dem CHIO von Aachen, nur kleiner – in Kiskunhalas den großen Auftritt: Werner Hansch und Werner Kirschstein. Hansch hantierte am Mikrofon, „Kirsche“ überreichte die Ehrenpreise – und achtete darauf, dass ein Fotograf in der Nähe war.

Er war fröhlich und doch auch einsam

In dieser Beziehung war er besonders stark, zum Beispiel in Aachen beim deutschen CHIO in der Soers (Foto: firo sportphoto/Augenklick). Kirsche stellte sich immer so geschickt hin, dass er von einer TV-Kamera erfasst werden mußte, ob beim Ein- oder Ausritt eines Reiters. Grund: An Tresen 1 oder 2 sagte dann einer in den nächsten Tagen, man habe ihn im Fernsehen gesehen. Er brauchte das. Werner Kirschstein war keine Ulknudel. Durch Kinderlähmung ging er hinkend und etwas ungerade, wie es im Reitsport heißt, aber er redete nicht darüber, es belastete ihn. Er war fröhlich und doch auch einsam.
 
Wen er mochte, den überschüttete er mit Geschenken. Und auf Auslandsturniere nahm er nicht nur seine augenblickliche Freundin mit, gleich den ganzen Anhang wie nach Gijon in Spanien 1995 zur Springreiter-Europameisterschaft. Zu bezahlen hatte er. Und einige nutzten auch schamlos seine Beziehungen zu Reitsportausrüstern aus: Sie schleppte in Bündeln Reithosen und Jackets weg – er löhnte. Während der Springreiter-Europameisterschaft in La Baule 1991 wollte er sich vor lauter Eifersucht gar ins Meer stürzen.
 
Wer mit ihm zusammen war, über viele Jahre hinweg wie ich, hat viele Erinnerungen an ihn, nicht alle positiv, aber in der Mehrheit schon. Er konnte ganze Zelte auf Volksfesten unterhalten. Und wenn ihn keiner aufhielt, griff er zum Mikrofon und sang. Das gehörte zu Kirsche. Er brauchte das auch. Von 1991 bis 2001 war er Schatzmeister des VDS, erhielt die Goldene Ehrennadel des Verbandes, auch im VWS engagierte er sich.
 
Kirsche ging in die Kirche, bekannte sich zum katholischen Glauben, war CDUler mit Parteibuch, liebte Borussia Dortmund mehr als Schalke 04, war vor allem einer aus dem Ruhrpott. Er sprach die Sprache der Kumpels und verstand sie. Er kannte alle Buden, er trank Jägermeister und Schlehenfeuer – neben Bier. Bei Bild in der damaligen Redaktion Essen-Kettwig verehrte er seinen Chef Benno Weber, und in der Hauptredaktion in Hamburg setzte er auf Bodo E. Müller, die beide oft einiges gerade bügelten.

Und er war mal Schützenkönig in Schermbeck, die Uniform, Schützenfest, Umzug, das liebte er. Das war jedes Jahr das wichtigste Datum neben dem Job. Zuletzt saß er am Mikro des Fußballvereins SuS Olfen. Und er hatte ein geradezu phänomenales Gedächtnis oder Speichervermögen für Zahlen. Telefonnummern waren in seinem Gehirn versenkt wie in Beton, aber auch Aufstellungen von Fußballmannschaften, Ergebnisse und Torschützen.
 
Noch lange über dieses liebenswerte Unikum lachen und „Kirsche“ vermissen

Er konnte auch anders sein. Um auf Seite 1 seiner geliebten Bild zu kommen, hätte er möglicherweise seine Großmutter verkauft. Seite 1 bei Bild, das war für ihn die Bestsellerliste. Für dieses Ziel nahm er keine Rücksicht auf Trainer und Sportler. Aber er gab auch gar schon mal einem wie zum Beispiel dem Reiter-Präsidenten Dieter Graf Landsberg-Velen kontra.
 
Der hatte nämlich im Oktober 2000 bei der Verabschiedung von Bundestrainer Herbert Meyer in Bremen die schreibende Zunft dahingehend gerügt, sie würde zu wenig den Reitsport in den Vordergrund heben, lobte dafür das Fernsehen. Da ging Kirsche schnurstracks und mit durchgedrücktem Kreuz auf die Bühne, griff zum Mikrofon und sagte, so könne das nicht stehen bleiben, die schreibende Presse würde doch weitaus mehr den Reitsport zur Geltung bringen als jeder Fernsehsender, und ohne die Schreiber würde das Fernsehen ja kaum wissen, dass es einen Sport im Sattel gebe.
 
Nun also hat er sich verabschiedet, unsere Kirsche, geradezu leise, unauffällig gegen seine Art. Er ging einfach „von Hoff“, wie er oft sagte, wenn er sich „vom Acker“ machte bei einem Turnier. Wir, die ihn kannten, werden noch lange von ihm reden, über dieses liebenswerte Unikum lachen und ihn vermissen. Er durfte nur 67 Jahre alt werden. Sein Sohn Michael sagt: „Er ist am Heiligen Abend friedlich eingeschlafen.“