Erinnerungen an die „Nacht des Grauens“

50 Jahre Olympia-Attentat

01.06.2022 Am 5. September jährt sich das Olympia-Attentat von München zum 50. Mal. Das VMS-Mitglied Joachim Day hatte die Gelegenheit, mit Zeitzeugen zu sprechen. Dessen zwölf Interviewfilme werden am Jahrestag auf der digitalen Plattform „Erinnerungsort Fürstenfeldbruck“ veröffentlicht.
Autor: Margit Conrad
Als am frühen Morgen des 5. September 1972 das Olympia-Attentat der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ auf israelische Sportler und Trainer im Olympischen Dorf begann, war Joachim Day, Filmproduzent, Moderator und Mitglied des VMS, ein elfjähriger Steppke. Der Vollblutjournalist, im südbadischen Lörrach geboren und im benachbarten Weil am Rhein aufgewachsen, saß am Morgen vor dem TV-Gerät, als von den Münchner Ereignissen berichtet wurde. Umgehend informierte er seine Eltern und seine beiden Schwestern. Die ersten Augenblicke und den weiteren Tagesablauf hat er nie mehr vergessen.

Die Entscheidung fiel sehr schnell, als ihm das Landratsamt Fürstenfeldbruck Ende 2018 das Angebot unterbreitete, längere Interviews mit Zeitzeugen des Attentats in München/Fürstenfeldbruck zu produzieren. Die Autorin dieses Artikels, zudem stellvertretende Vorsitzende des Vereins Münchner Sportjournalisten, sprach mit Day über dessen Filmprojekt (Day-Foto: VMS).

Und dabei erfuhr sie, dass er noch Gelegenheit hatte, mit zwei großen deutschen Persönlichkeiten über die Ereignisse zu sprechen: Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD), von 1960 bis zum 30. Juni 1972 Münchens Oberbürgermeister, gestorben am 26. Juli 2020 im Alter von 94 Jahren, und Professor Dr. Walther Tröger, Bürgermeister des olympischen Dorfs, später Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) für Deutschland und IOC-Vizepräsident, gestorben 91-jährig am 30. Dezember 2020.

Vogel war zwar zum Zeitpunkt der Olympischen Spiele 1972 nicht mehr in Amt und Würden. Aber er, der maßgeblichen Anteil daran hatte, dass die „Spiele“ nach München gekommen waren, fühlte sich vom dem, was am 5. September 1972 passierte, über viele Jahre hinweg persönlich belastet. Das Attentat sei ihm zeitlebens nahegegangen, hat er immer wieder erzählt, und fügt hinzu: „Ich war ja derjenige, der die Einladung letzten Endes an die israelische Mannschaft wie an alle anderen herbeigeführt hat.“ Selbst dass das IOC und dessen damaliger Präsident Avery Brundage auch die Einladenden waren, konnte Vogel bis zu seinem Lebensende nicht beruhigen.

Auch bei Tröger, der den damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher zu Verhandlungen mit den Terroristen begleitete, löste die Nachricht, dass alle Geiseln tot seien, „Trauer und Wut“ aus. Aber dieses Gefühl hatte Tröger, nach eigenem Bekunden, schon Stunden davor, „weil ich eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet habe, dass es gut ausgehen kann“ (Tröger-Foto: VMS).

Zwei Tage davor, am 3. September 1972, wurde Klaus Wolfermann sensationell mit 90,48 Metern Olympiasieger im Speerwurf-Wettbewerb und schlug den Letten Janis Lusis um lediglich zwei Zentimeter, denn der Weltrekordinhaber mit einer Weite von 93,80 Metern schaffte im letzten Versuch lediglich 90,46 Meter. Wolfermann weiß bis heute nicht, ob er es emotional geschafft hätte, zum Wettkampf anzutreten, wenn dieser nach dem Attentat angesetzt gewesen wäre.

Er sagte auf Days Nachfrage aber ganz offen, dass er die Fortführung der Olympischen Spiele – am 6. September 1972 verkündete Brundage: „The games must go on“ – befürwortet habe. „Die Spiele mussten weitergehen, wenn das nicht stattgefunden hätte, wäre das wirklich eine Entmündigung der Spiele gewesen, das heißt, es hätte wahrscheinlich gar keine Spiele mehr gegeben“, vermutet Wolfermann.

Sehr zu Herzen gegangen sind Day insbesondere die Gespräche mit jenen Personen oder auch Angehörigen, die am Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck im Einsatz gewesen sind, wo das Massaker dann das tragische und tödliche Ende genommen hat. Sanitäter Axel Kaiser berichtete ihm etwa von einer amateurhaft versuchten Geiselbefreiung. „Da war ein höllisches Durcheinander, die Terroristen haben erst einmal die Beleuchtung ausgeschossen – alles war fast dunkel.“ Die anschließende Schießerei habe eine ganze Weile gedauert (Kaiser-Foto: VMS).

Bei seinem zweiten Auftrag rauszufahren, sei er alleine gewesen, ohne Krankenschwester und Arzt. „Ich bin dann zu dem Hubschrauber, hab’ reingeschaut, hab’ die Leichen gesehen, mit Schussverletzungen und gefesselt mit orangefarbenen Stricken – sie alle guckten mich noch an.“ Er wollte die Tür des Hubschraubers aufmachen, bekam sie aber nicht gleich auf, „und dann wurde auf mich geschossen“. Kaiser hatte „Glück“, denn die Kugel ging um Zentimeter an seinem Kopf vorbei.

Sehr ergreifend war es zudem für Day, mit den Familienangehörigen des beim Einsatz am Fliegerhorst Fürstenfeldbruck getöteten Polizisten Anton Fliegerbauer über die Aufarbeitung des schweren Verlusts zu sprechen.

Dessen Bruder Alfred erinnert sich daran, dass er das Weinen seiner Eltern durch das Zimmer gehört habe. Und er weiß auch noch, dass er, als Landwirt auf dem Traktor sitzend, vor lauter Kummer vor sich hin geträllert hat, um sich abzulenken, den Stress, das Leid zu vergessen (Foto Alfred Fliegerbauer: VMS).

Sein Sohn, der inzwischen als Diakon arbeitet, kam sechs Jahre nach dem Attentat zur Welt, wurde nach seinem getöteten Onkel benannt und sagt anlässlich des Ereignisses von 1972: „Mei, mein Vater ist auch nicht der, der so super viel erzählt drüber, aber er kann schon freier reden inzwischen als das noch vor 20 Jahren war“.

Andreas Zenglein war damals 19 Jahre alt und beim Bundesgrenzschutz eingesetzt. Seine Erlebnisse sind so nachhaltig wie die des Sanitäters Kaiser. Auch er spricht davon, dass er – nachdem man mit Säcken und kleinen Plastiktüten herumgegangen ist, um Körperteile oder auch Munition aufzusammeln, um das Ganze dann irgendwie später zu rekonstruieren – zwei bis drei Tage danach immer noch den Leichengeruch in der Nase gehabt habe.

Und er erzählt auch, dass ein Kasseler mit Semmel zum Mitttagessen im Tower angeboten worden sei. Was er normalerweise nicht mache, habe er damals getan: „Essen weggeschmissen, ich konnte es nicht essen. Andere Kollegen, die saßen da und haben das noch genüsslich gegessen. Da habe ich mich dann auch gefragt, was geht in deren Kopf vor“, erinnerte sich Zenglein beim Interview.

Der Anschlag galt der israelischen Mannschaft. Die derzeitige Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Dr. h.c. Charlotte Knobloch, sagte im Gespräch mit Day: „Wir waren natürlich sehr, sehr traurig, dass diese jüdischen Sportler und Trainer dieses Ende fanden, die nur hergekommen sind, um Sport zu machen, um sich zu freuen und um ein gewisses Miteinander zu haben. Man hat auch gehofft, dass der Staat Israel mit der Teilnahme an den Olympischen Spielen die Verbindung mit Deutschland festigt. Es war ein unermesslicher Schaden, der da angerichtet wurde in der Verbindung von Menschen, weil natürlich dieses Attentat die Menschen immer mit der Vergangenheit der deutschen Geschichte in Verbindung brachten“ (Vogel-Foto: VMS).

Und nicht zuletzt gab es auch Journalisten, die nicht nur die schönen Seiten von Olympia, sondern auch diesen bestialischen Anschlag begleiteten, wie VMS-Mitglied Peter M. Lill. Noch heute hat der damals als 25-Jähriger bei der tz in München tätige Sportjournalist, nach Aussagen seiner Frau Alpträume bezüglich dieses Wahnsinns, der sich da abgespielt hat. Als kurz nach Mitternacht im Fernsehen Regierungssprecher Conrad Ahlers bei einer Pressekonferenz sagte, dass alle Geiseln frei seien, „haben wir zum vierten oder fünften Mal die Schlagzeile  der tz dahingehend geändert: ‚Alle Geiseln sind frei’.“

Lill hat den Andruck noch abgewartet und ist dann nach Hause gefahren. Und dann die Meldung in den Drei-Uhr-Nachrichten: „Alle Geiseln sind tot.“ Seine Frau sagt, sie sehe ihn heute noch auf dem Bett sitzen, völlig paralysiert. „Weil journalistisch ist das das Schlimmste, was einem passieren kann, auch noch bei dieser schrecklichen Geschichte. Und ich habe dann in der Redaktion angerufen, ob ich noch mal reinkommen soll. ,Ne, schlaf dich mal aus, du warst den ganzen Tag auf den Beinen. Wir ändern die Schlagzeile‘.“

Die zwölf durchschnittlich 25-minütigen Zeitzeugen-Interviews sind seit dem 5. September, dem 50. Jahrestag des Massakers, auf der digitalen Plattform „Erinnerungsort Fürstenfeldbruck“ verfügbar.