„Kritik ist für meinen Job lebenswichtig“

Marcel Reif im Gespräch

10.03.2016 Zum Ende der laufenden Saison hört Marcel Reif bei Sky auf. Mit sportjournalist-Autor Wolfgang Uhrig spricht der 66-Jährige über hämische Kommentare, berechtigte Kritik, seine Vorbilder – und was er noch vorhat.
 
Der Bundesligasender Sky verliert Deutschlands höchstdekorierten Sportreporter. Zum Interview kommt er pünktlich und mit flottem Schritt in das verabredete Café. Eine ältere Dame geht auf ihn zu, sie stellt sich vor als Griechin und bittet höflich um ein Autogramm mit Widmung: „Für Helene – von Ralph Siegel“. Der Mann schmunzelt und schreibt: „Für Helene – Marcel Reif“.

sportjournalist: So eine Szene mit Frau Helene – passiert Ihnen das oft, Herr Reif?

Marcel Reif (Foto: Sampics/Augenklick): Die Bitte um ein Autogramm kommt schon mal vor. Allerdings unter dem Namen Ralph Siegel – das war jetzt neu für mich.

sj: Sagt Ihnen der Name Bernhard Ernst etwas?

Reif: Ein Radio-Pionier, der erste Live-Reporter für ein Fußballspiel.

sj: Ernst schrieb in seinem Buch „Rund um das Mikrofon“, er sei nie zufrieden gewesen, wenn er sich seine Reportagen noch einmal angehört hat. Kontrollieren Sie sich auch?

Reif: Das ist die Ausnahme. Weil es mir dann genau so ergehen würde wie dem Kollegen, höre ich es mir eher nicht mehr an.

sj: Sie haben nie Radio gemacht?

Reif: Es hat sich nie ergeben. Das ist ein völlig anderer Beruf. Und wer glaubt, man müsse nur über etwas plappern, der wird sich umgucken. Ich habe einen unglaublichen Respekt vor Menschen, die kein Bild haben und Bilder schaffen müssen. Ich hoffe, die haben auch Respekt vor mir, weil ich viel weniger und viel präziser auf ein Bild reden muss, das die Menschen ja sehen.

sj: Kommt es vor, dass Sie Menschen, die gemeinsam mit Ihnen ein Spiel sehen, zur Halbzeit anrufen mit der Frage „Wie bin ich“?

Reif: Meine Frau (Foto: GES-Sportfoto) schreibt mir sehr bald eine SMS: „Ton ist okay, du siehst wieder einmal hinreißend aus“. Das ist gut für die Seele (schmunzelt). Und für den Verstand ist es dann hin und wieder mein ältester Sohn. In der Regel rufe ich ihn aber nicht an, sondern er mich. Dann kriege ich entsprechend Feuer, denn er ist sehr, sehr streng mit mir. So wie früher der leider verstorbene Michael Palme, lange Jahre mein Assistent und ältester Freund. Der saß neben mir und hat mir schon während des Spiels gesagt: „Mann, ich halt's nicht mehr aus – halt' doch einmal die Schnauze jetzt, du redest in ein schwarzes Loch rein, am Stück."

sj: Sie waren nicht beleidigt?

Reif: Michael war mein großer Bruder, der durfte alles.

sj: Und andere Kritiker?

Reif: Mich interessiert jede Kritik. Das ist jetzt nicht kokett, das meine ich wirklich so – wenn sie sachlich ist. Natürlich höre ich lieber, wenn alle sagen: „Gott, du bist ja der Allerbeste, der Allergrößte, der Allerschönste.“ Kritik ist für meinen Job lebenswichtig. Es gibt ja sonst kein Feedback.

sj: Na ja, über die sozialen Medien werden Sie oft wüst beschimpft. Fußballfans in Dortmund und Dresden sind Ihnen vor Monaten hasserfüllt entgegengetreten – auch ein Grund für den Ausstieg bei Sky?

Reif: Das hat mich in der Überlegung, es langsam auslaufen zu lassen, nicht beeinflusst. Allerdings hat mich das zum damaligen Zeitpunkt schon getroffen.

sj: Unvergessen ist dieser Satz von Franz Beckenbauer zu Beginn Ihrer Karriere im Sport: „Der spricht wunderbare politische Kommentare, aber bittschön, lasst ihn vom Fußball weg.“

Reif: Das war damals ein echter Schock. Ich saß daheim auf dem Sofa und dachte: „Gleich lobt mich Franz Beckenbauer.“ Und dann sagt der so etwas! Inzwischen haben wir 100 Mal herzlich darüber gelacht (Foto: firo-Sportphoto/Augenklick).

sj: Im Hamburger Abendblatt wurde Ihr Kollege Werner Hansch einmal so zitiert: „Für mich gibt es nur einen, der noch besser ist als der Reporter Reif. Der Reporter Reif hat meinen vollen Respekt, den Kaufmann bewundere ich – und zwar neidlos.“

Reif: Was soll ich dazu sagen – da ist eine Spitze drin, die ich nicht kommentieren möchte.

sj: „Er ist der Beste“, schrieb Spiegel Online. In der Welt stand: „Er wirkt als einer, der da von oben, von seinem Kommentatoren-Platz, triefenden Sarkasmus über das absondert, was dort unter ihm passiert.“

Reif: Eine Unverschämtheit, ein dummer und impertinenter Satz! Das ärgert mich. Ich habe selbst Fußball gespielt, ich verstehe das Spiel, das lasse ich mir von niemandem ausreden. Und ich habe noch nie triefenden Sarkasmus abgesondert. Ich habe zuweilen ironisch kommentiert – aber dass ich von oben auf etwas herunter gucke, dass ist einfach Unsinn! Ich liebe den Fußball, und wenn ich mich über etwas erhöhe, das ich liebe, geht die Liebe kaputt.

sj: Können Sie sich als Sky-Chefkommentator die Einsätze selbst aussuchen?

Reif: Das war bis vor zwei Jahren so. Danach haben wir gemeinsam einen langsamen Übergang eingeleitet in eine breitere Spitze. Das heißt aber nicht, dass ich ein Spiel machen muss, das ich nicht machen möchte.

sj: Als Sie noch die freie Wahl hatten, welche Spiele wollten Sie da gern machen?

Reif: Zu Beginn, auf meinem Weg zum Chefkommentator, habe ich sicher mit ganz spitzen Fingern und Adleraugen geguckt, was mir vermeintlich gerecht wird, was meiner würdig ist. Mittlerweile bereitet es mir nicht eine einzige schlaflose Sekunde, wenn ich nicht genau das Spiel bekomme, das ich mir auch hätte denken können.

sj: Sie haben auch geschrieben, zum Beispiel eine Kolumne im Berliner Tagesspiegel. Könnten Sie sich vorstellen, Chefredakteur bei 11Freunde, kicker oder Sportbild zu sein?

Reif (Foto: firo-Sportfoto/Augenklick): Freut mich sehr, dass Sie es nicht unter Chefredakteur machen (schmunzelt). Nein, ich habe einen ganz großen Respekt vor Leuten, die gut schreiben können!

sj: Wie gut schreiben Sie?

Reif: Ganz ordentlich. Aber ich schreibe fürchterlich langsam, weil das nicht mein Kerngeschäft ist. Bis ich einen Satz für gut genug halte, bis das fließt, das dauert. Auch weil bei mir ein Satz für die Ewigkeit gemeißelt sein muss. Und das ist für Leute, die dann halt einen Text brauchen, meistens sehr anstrengend.

sj: Wo lesen Sie mit Vergnügen über Fußball?

Reif: Also bei mir läuft das Wochenende in der Regel so: Am Freitag gucke ich das erste Spiel, am Samstag oder Sonntag kommentiere ich, dann schaue ich „Alle Spiele, alle Tore“, am Samstagabend aus alter Verbundenheit auch noch „Das aktuelle Sportstudio“ im ZDF. Und dann lese ich am Montag mit Vergnügen in der Süddeutschen Zeitung nach, wie das Spiel war. Und das muss dann wirklich sooo gut sein – sonst schmeißt man das doch einfach in die Mülltonne.

sj: In den Ruhr-Nachrichten haben Sie zum Sky-Abschied gesagt: „Ich mache bald nur noch das, worauf ich Lust habe.“ Das heißt doch im Umkehrschluss, dass Sie bei Sky keine Lust mehr haben.

Reif: Falsch. Ich muss nur nichts mehr machen. Ich bin 66, und in Rente zu gehen mag ich noch nicht, ich habe noch viel zu viel Spaß an der Sache. Was ich bisher gemacht habe, ist ein Traumjob, in der Regel das reine Vergnügen. Ab 1. August bin ich nun völlig frei. Ganz sicher werde ich nichts mehr tun, worauf ich nicht wirklich Lust habe. Alles was ich dann mache, muss dem Lust-Prinzip unterworfen sein.

sj: Wie wäre es mit einem Sendeformat außerhalb des Fußballs? Anne Will, Maybrit Illner, Reinhold Beckmann oder Günter Jauch haben als Ex-Sportler Erfolg auf dem politischen Spielfeld.

Reif: Bei mir ging das ja ganz andersrum – ich war politischer Journalist für das ZDF in London und ging dann zum Sport. Jetzt zurück an das andere Ufer? Nein, das geht nicht mehr.

sj: Was ist mit Unterhaltung wie Johannes B. Kerner?

Reif (Foto: Sampics/Augenklick): Da fehlt mir, glaube ich, das Showtalent. Und ich werde sicher nicht das Risiko gehen, mich lächerlich zu machen. Das brauche ich nicht mehr.

sj: Schauen Sie schon mal Jauch im Fach Politik und denken: „Das hätte ich auch sein können?“

Reif: Nein. Wir beide sind seit Generationen befreundet. Ich weiß, dass er das, was ich mache, nicht gering schätzt und ich schätze das, was er tut, über die Maßen. Und jetzt kriegen Sie wieder ein bisschen Hybris – warum soll ich etwas tun, wo ich nicht der Beste sein kann?

sj: Hmm.

Reif: Das habe ich mir immer vorgenommen. Ob mir das immer gelungen ist, das sei dahingestellt. Die einen sehen das so und die anderen so. Und nochmal zu Jauch: So gut wie er oder gar besser könnte ich das nicht. Warum also sollte ich so etwas machen?

sj: Was kann ein Sportjournalist vom Kollegen aus dem Ressort Politik lernen?

Reif: Ein bisschen mehr Distanz. Im Sportjournalismus duzt man erbarmungslos jeden, den man trifft, man sucht oft eine geradezu körperliche Nähe. Der große ZDF-Sportchef Hajo Friedrichs sagte zu uns: „Ihr dürft gerne dabei sein, aber nicht dazugehören.“ Viele haben diesen Satz gar nicht verstanden.

sj: Wie Rolf Töpperwien zum Beispiel. Er sagt: „Wir sitzen alle in einem Boot.“

Reif: Überhaupt nicht. Deshalb habe ich ihn mir auch mal geschnappt. „Rolf“, sagte ich, „wir rudern auf dem gleichen See, aber sicher nicht im selben Boot.“ In eine solche Falle bin ich nie getappt.

sj: Auch nicht als Mitglied eines Vereins, als Kommentator für ein Spiel Ihres 1. FC Kaiserslautern?

Reif: Ich habe den 1. FC Kaiserslautern, den Klub meines Herzens, mehrmals kommentiert. Beim ersten Mal hatte ich schlaflose Nächte – so, jetzt musst du aber aufpassen. Bis ich merkte: Es ist immer nur ein Fußballspiel, es spielen immer noch zwei Mannschaften, vergiss einfach mal, welches Trikot die eine Mannschaft hat, kommentiere so, wie es sich gehört. Es ging – und danach hatte ich nie mehr ein Problem.

sj: Vorhin sprachen Sie vom „Aktuellen Sportstudio“. Das zu moderieren hat Sie nie gereizt?

Reif: Das machten seinerzeit Kürten, Jauch, Valérien und ähnliche Kaliber. Da dachte ich mir: Bevor ich mich dort an Stelle sechs einsortiere, mache ich besser das, wo ich das Gefühl habe, das kriege ich so hin, dass ich damit hoch zufrieden bin.

sj: Waren Sie als Journalist mal nicht hoch zufrieden?

Reif (Foto mit Assistent Christoph Biermann: firo-Sportphoto/Augenklick): Vielleicht in der Zeit, als ich eine Redaktion geleitet habe, den Sport von RTL. Da habe ich festgestellt, dass das nicht das ist, was ich möchte.

sj: Warum?

Reif: Weil dort Dinge passiert sind, mit denen ich nicht so gut klar kam.

sj: Was meinen Sie damit?

Reif: Menschen und deren Unzulänglichkeiten. Und das muss man ertragen können. Außerdem bin ich dort an Strukturen gescheitert, die mir so zuwider waren, weil sie der Sache nicht gedient haben.

sj: Was wäre aus Marcel Reif ohne Fußball geworden?

Reif: Zuerst wollte ich natürlich Lokomotivführer und Astronaut werden, später in den diplomatischen Dienst. Oder Jurist. Heute weiß ich, weil ich mit einigen Juristen eng befreundet bin, da wärst du aber krachend gescheitert. Der Journalismus aber war auch schon in der Schule eine Option, denn ich war im Aufsätze-Schreiben schon sehr gut. Ich hatte Spaß an der Sprache.

sj: „Sprache ist ein Geschenk“, haben Sie in der Süddeutschen Zeitung gesagt. Was ist schlechte Sprache im Sportjournalismus?

Reif: Alles, was Geschwafel ist. Wortgeklingel, weil man glaubt, was sagen zu müssen.

sj: „Wenn Sie das Spiel atemberaubend finden, haben Sie es an den Bronchien“, sagte Marcel Reif.

Reif: Das gelingt dir mal, dann gelingt es dir wieder nicht. Ich sitze ja nicht da und denke, jetzt musst du aber mal was raushauen. Ich freue mich, wenn ich es schaffe, unterhaltsam zu unterrichten. (Foto: firo-Sportphoto/Augenklick)

sj: Deutscher Fernsehpreis, Grimme-Preis, Bayerischer Fernsehpreis – Sie sind der höchstdekorierte Sportjournalist. Was bedeutet Ihnen das?

Reif: 34 Jahre im Job bringen auch Preise mit sich (schmunzelt).

sj: Ein bescheidener Hinweis von einem Mann, der als eitel und selbstverliebt gilt.

Reif: Jeder Journalist muss Lust an der Selbstdarstellung haben, er muss ein Exhibitionist sein. Und Eitelkeit ist ein hervorragender Antrieb. „Selbstverliebt“ allerdings ist eine platte Floskel, die bei mir auf jeder Karteikarte steht. Aber jeder Mensch sollte doch in einem gewissen Maß selbstverliebt sein. Sonst kann er nicht lieben, das habe ich mal gelernt. Wer sich nicht selbst liebt, kann nicht andere lieben.

sj: Was empfinden Sie bei Ihrem Spiegelbild?

Reif: Das kommt auf den Gemütszustand an – manchmal denke ich, so können wir weitermachen. Und manchmal denke ich, du musst mal eine Stunde länger schlafen. Du musst es nur bei Mineralwasser belassen, mal nicht so verkniffen gucken, mal fünf gerade sein lassen. Unterm Strich aber bin ich mit mir ziemlich im Reinen.

sj: Und was kommt jetzt, Herr Reif? Mal ehrlich!

Reif: Ich habe keinen Masterplan. Leute unterstellen mir, dass ich nicht aufhören würde, wenn ich nicht wüsste, dass der nächste Schritt schon vorgezeichnet wäre. Nach 66 Jahren – und jetzt zitiere ich dann doch Werner Hansch – mit einem halbwegs ausgeprägten kaufmännischen Talent, wenn ich das noch nötig hätte, sofort von einer Tür in die nächste gehen zu müssen, das wäre misslich. So kann ich jetzt sagen: Ich schreibe keine Bewerbung, ich sitze auch nicht da und warte auf Angebote – aber ich höre mir interessante Vorschläge an.

sj: Gibt es welche?

Reif: Ja! Die kommen dauernd, sie würden schon fast ausreichen. Das eine oder andere ist dabei, das ich mir in Ruhe durch den Kopf gehen lasse – vor allem Angebote mit großem Lustfaktor drin!

sj: Wir sind gespannt.

Mit Marcel Reif sprach Wolfgang Uhrig