„Lügenpresse ist ein Kampfbegriff“

Interview mit Medienwissenschaftlerin Wiebke Loosen – Teil II

23.01.2017 Kritik an der Berichterstattung der Medien ist auch ein Zeichen für Wertschätzung. Doch wer von „Lügenpresse“ spricht, will nur seine Verachtung zeigen, sagt die Hamburger Medienwissenschaftlerin Dr. Wiebke Loosen.
 
Im ersten Teil des dreiteiligen Interviews mit Dr. Wiebke Loosen ging es darum, auf welch vielfältige Art und Weise Menschen Social Media nutzen. Seit April 2010 ist Privatdozentin Wissenschaftliche Referentin im Hamburger Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Journalismusforschung, Online-Kommunikation und Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Zudem ist Loosen Mitglied im Kuratorium der Akademie für Publizistik sowie Mitherausgeberin der Reihe „Aktuell – Studien zum Journalismus“. Eines ihrer Projekte trägt den Titel „Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums“, für das sie Fallstudien in vier Redaktionen (ARD-Tagesschau, ARD Polittalk, Süddeutsche Zeitung und Der Freitag) durchgeführt hat.

sportjournalist: Frau Dr. Loosen, es gibt unglaubliche Anforderungen vom Publikum in Richtung Journalisten. Gleichzeitig werden im Mediensegment massiv Stellen gestrichen. Wie sollen Journalisten damit klarkommen?

Loosen (Foto: Hans-Bredow-Institut): Sie fragen nach der Berufszufriedenheit. Es ist auf jeden Fall ein Spannungsverhältnis, in dem Journalisten leben und arbeiten. Die Publikumsbeteiligung ist eine neue Baustelle, es gibt eine quantitative Zunahme und qualitativ veränderte Erwartungen an Journalismus. Und das alles kommt zu einer Zeit, in der die Ressourcen runtergehen.

sj: Haben Sie eine Lösung?

Loosen: Ich glaube, dass es in Teilen zu einer neuen Aushandlung der Erwartungen an Journalismus kommen muss.

sj: In jüngster Zeit ist häufig von „Lügenpresse“ die Rede. Ist aus Ihrer Sicht an diesem Vorwurf etwas dran?

Loosen: Nein, das ist ein Kampfbegriff. Die Kritik, der sich Journalismus immer wieder ausgesetzt sieht, ist auch ein Zeichen von Wertschätzung. Das darf man aber nicht verwechseln mit den pauschalen „Lügenpresse“-Vorwürfen, die eine ganz andere Liga markieren.

sj: Können Sie das näher ausführen?

Loosen: Kritik an den Medien gab es schon immer. Diese zeigt auch, dass Journalismus einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat. Wir haben sehr hohe Erwartungen an unseren Journalismus in einer Demokratie. Nicht umsonst gibt es den Begriff der Vierten Gewalt. Die Rechte und Pflichten der Medien sind gesetzlich verankert. Wir müssen uns ernsthaft Sorgen machen, wenn es den Menschen egal ist und sie sich von den Medien abwenden, was wir zum Teil auch schon erleben.

sj: Die Welt wird immer komplexer und widersprüchlicher. Sind die sozialen Medien so etwas wie ein digitaler Schutzraum, in dem sich die Menschen sicher fühlen?

Loosen: In der Wissenschaft spricht man vom Rückzug ins Private. Der hat nicht nur mit der Situation der Medien zu tun, sondern auch mit der schwierigen weltpolitischen Lage, in der wir leben. Und die Medien sind nun einmal die, die diese Nachrichten immer noch zu einem sehr großen Teil überbringen, die sozialen Medien tun das Ihrige dazu. Ich sehe einen Zusammenhang zwischen der gewandelten Medienumgebung und dem Phänomen des Rückzugs. Anzeichen sind Politik- und Nachrichtenverdrossenheit oder ein zunehmendes Gefühl der Ohnmacht.

sj: In welcher Hinsicht haben sich die Medien gewandelt?

Loosen: Die Digitalisierung hat uns neue Quellen erschlossen, die Welt zu beobachten, zudem in Echtzeit wegen der mobilen Endgeräte. Wir lernen Stück für Stück, dass es nicht nur die eine Art der Weltbeschreibung gibt, wie wir sie aus dem Journalismus kennen, sondern ganz viele unterschiedliche. Da wird derzeit ein Überschuss an Sinn produziert, vergleichbar mit der Phase der Irritation, die eingesetzt hat, als der Buchdruck auftauchte. Als es möglich war, Wissen zu fixieren und zu verbreiten, unabhängig zu machen von räumlicher und zeitlicher Nutzung. So eine einschneidende Phase erleben wir jetzt auch.

Mit Dr. Wiebke Loosen sprach Clemens Gerlach. Lesen Sie im dritten und letzten Teil des Interviews, wieso Datenjournalismus so wichtig für die Zukunft kritisch berichtender Medien ist.

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Dezember 2016 des sportjournalist, die direkt beim Meyer & Meyer Verlag bestellt werden kann. Mitglieder des VDS können sich das Heft als PDF im Mitgliederbereich kostenlos herunterladen.