„Der kicker lebt und bedient eine Tradition“

Medienwissenschaftler Christoph Bertling im Interview – Teil I

02.12.2020 Der kicker begeht 2020 sein 100-jähriges Jubiläum. Dr. Christoph Bertling vom Institut für Kommunikations- und Medienforschung der Deutschen Sporthochschule Köln, ehemals selbst Sportjournalist, spricht im sj-Interview über die Rolle des Fachmagazins in der Branche und dessen früheren Hang zum Fußball-Lobbyismus.
 
sportjournalist: Herr Dr. Bertling, welchen Stellenwert hat der kicker im Sportjournalismus?

Dr. Christoph Bertling: Der kicker hat, wie große Teile der Sportberichterstattung, eine Sonderposition, weil sie einerseits ein Produkt promotet und andererseits klare journalistische Kriterien erfüllen muss. Gerade für das Fachmagazin kicker ist das ein Balanceakt, weil er aufpassen muss, dass er nicht zu nah dran ist und journalistische Kriterien einhält.  

sj: Wie hat sich die Funktion des kicker im Laufe der Jahre verändert?

Bertling: In den Anfängen bei Walther Bensemann ging es um Völkerverständigung, damals ein sehr internationaler und innovativer Ansatz. Fußball, den Bensemann ja nach Deutschland gebracht hat, stand für eine größere Idee. Heute steht Fußball für Fußball, auch im kicker. Das humanistische Erbe kann ich nicht mehr erkennen. Der kicker ist ein Markenprodukt, das aufgrund der hohen Glaubwürdigkeit funktioniert. 100 Jahre zu existieren im sehr harten Segment der Publikumszeitschriften ist einzigartig (Bertling-Foto: DSHS).

sj: Wann hat diese Entwicklung zum Markenprodukt eingesetzt?

Bertling: Als der Olympia-Verlag das Sportmagazin und den kicker zusammengeführt hat. Die Kommerzialisierung im Fußball hat diese Entwicklung zur Marke verstärkt, ebenso die Digitalisierung. Den digitalen Markenaufbau hat der kicker in den 1990er-Jahren sehr konsequent und gut gemacht, mit seinem Schaufenster in die digitale Welt.

sj: Ist der kicker aus Ihrer Sicht ein Leitmedium für Sportjournalisten?

Bertling: Im klassischen Sinne trifft das eher auf die SZ oder FAZ zu. In der Sportbranche ist der kicker sicherlich ein Blatt, dem man vertraut und Kompetenz zuspricht. Aus publizistischer Sicht hat der kicker keine Funktion als Leitmedium. Bei der Beinahe-Pleite des BVB erfüllte er auch eine investigative Rolle, aber übergeordnet nicht. Ich würde den kicker nicht als journalistisches Flaggschiff bezeichnen, sondern als Fachmagazin mit sehr guten Informationen und Verbindungen.

sj: Vermissen Sie in dessen Berichterstattung Kritik oder brisante Themen wie Doping und Korruption?

Bertling: Ich glaube, dass der kicker besser geworden ist und für sich verstanden hat, dass man nicht zu distanzlos sein darf. Aber gehen wir mal 15 Jahre zurück: Da waren diese Themen so gut wie nicht präsent. Es war ein Blatt, das einen gewissen Fußball-Lobbyismus betrieben hat.

sj: Bietet der kicker aus Ihrer Sicht nach wie vor eher eine Basisberichterstattung?

Bertling: Finde ich schon. Eine Basis, die auf Fakten und Datenbänken beruht. Nicht die Sprache, auch nicht die Einschätzung, sondern die Daten sind der eigentliche Schatz des kicker. Seine Stärken liegen auch darin, worüber sich viele Leute lustig machen: Dass der kicker eine Sprache hat, von der man in journalistischen Kreisen sagt, sie sei nicht State of the Art. Aber ich glaube, dass der kicker eine Tradition lebt und bedient, die die Fußballwelt haben möchte.

Mit Dr. Christoph Bertling sprach Maik Rosner. Lesen Sie im zweiten und letzten Teil des Interviews mit Dr. Christoph Bertling, warum der kicker nach dessen Einschätzung pathetisch, aber auch innovationsfreudig ist.

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