„Während der Winterspiele kein Blick hinter die Kulissen“

Chinesische Autorin Qin Liwen im Interview

28.01.2022 Die Autorin Qin Liwen ist eine Kennerin des Landes China. Im sportjournalist-Interview mit dem früheren China-Korrespondenten Marcel Grzanna spricht sie über die politische Bedeutung der Winterspiele für das Regime, die Auswirkungen der Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang und die Gefahr, der chinesischen Propaganda auf den Leim zu gehen.
 
Die Olympischen Winterspiele in Peking (4. bis 20. Februar) bieten ausländischen Journalisten wegen Chinas Null-Covid-Strategie kaum eine Chance, über etwas anderes als Sport zu berichten. Die Autorin Qin Liwen sieht die Pandemie als willkommene Gelegenheit für die autoritäre chinesische Regierung, den Bewegungsradius internationaler Medien auf ein Minimum zu reduzieren. Qin betreute bei den Sommerspielen 2008 den englischsprachigen Internetauftritt des Organisationskomitees BOCOG. Inzwischen ist die gebürtige Chinesin deutsche Staatsbürgerin und lebt seit 2012 in Berlin.

sportjournalist: Frau Qin, wie wird sich das Arbeitsumfeld der deutschen Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort von den Winterspielen in Peking berichten, im Vergleich zu den Sommerspielen 2008 unterscheiden?
 
Qin Liwen: Die Pandemie sorgt für den gravierendsten Unterschied. Sie liefert der chinesischen Regierung die beste Entschuldigung, die Berichterstattung durch ausländische Journalisten einzuengen und zu kontrollieren. Das war 2008 nicht so. Auch damals gab es entgegen der chinesischen Zusagen an das Internationale Olympische Komitee drastische Einschränkungen. Aber in keiner Weise vergleichbar mit diesem Jahr. Die Olympia-Blase zwingt die Journalisten quasi dazu, ausschließlich über Sport zu schreiben.
 
sj: China fährt seit zwei Jahren eine Null-Covid-Strategie. Sind die strengen Maßnahmen während der Spiele nicht die logische Konsequenz daraus?
 
Qin: Wenn man der Logik der chinesischen Regierung folgt, dann mag das zutreffen. Aber auch in Tokio war es Journalisten und Gästen ja irgendwann möglich, aus der Isolation in das normale japanische Leben einzutreten und sich frei in der Stadt zu bewegen. Das ist ja in China gar nicht möglich – egal, wie lange man sich im Land aufhält. Trotz Impfungen und täglicher Tests wird kein Journalist während seines gesamten Aufenthaltes auch nur einen Blick hinter die Kulissen der Spiele werfen können (Foto Medizinisches Personal in China: picture alliance/Shen Bohan).
 
sj: Das Covid-Testverfahren in Peking setzt den Grenzwert für ein negatives Ergebnis höher an als international üblich. Müssen sich china-kritische Kolleginnen und Kollegen Sorgen machen, dass ihnen ein positiver Test untergejubelt wird, um sie in Quarantäne festzuhalten, obwohl eine internationale Kommission über das Verfahren wacht?
 
Qin: Grundsätzlich gilt, dass auf chinesischem Boden alles möglich ist, was die chinesische Regierung gerne möchte. Wer auf internationale Kommissionen in China verweist, der ist zu naiv in seiner Annahme. Dennoch halte ich die Wahrscheinlichkeit für relativ gering. Die Regierung will reibungslose Spiele abwickeln. So verlockend es für sie klingen mag, unfreundlich gesinnte Journalisten in Quarantäne zu verfrachten: Die Olympia-Blase ist Kontrolle genug.
 
sj: Wenn die Kolleginnen und Kollegen aus der Not heraus Olympia-Volunteers zur Situation in China befragen, um überhaupt mal eine lokale Meinung zu bekommen, was sollten sie dabei beachten?
 
Qin: Jeder muss sich darüber im Klaren sein, dass er keine persönliche Einschätzung von einem chinesischen Olympia-Akkreditierten bekommt – ganz gleich, wie selbstbewusst der Gegenüber auftritt. Ausnahmslos alle Volunteers und sonstige Mitarbeiter sind regelrecht geschult, Fragen entweder auszuweichen oder Antworten zu geben, die das Regime in ein gutes Licht stellen. Das bedeutet nicht, dass man nicht fragen darf. Aber man sollte wissen, dass in Wahrheit das Propagandaministerium der Volksrepublik China zu einem spricht. Diese Beeinflussung der internationalen Meinung ist eine alte Tradition nicht nur im kommunistischen China, sondern gehörte auch in der früheren Sowjetunion zu den gängigen Praktiken.
 
sj: Welche Bedeutung hat Olympia 2022 für China im Vergleich zu den Spielen 2008?
 
Qin: Damals waren die Voraussetzungen andere. Die chinesische Regierung war 2008 sehr bedacht darauf, das Image des Landes als kommende Großmacht aufzubauen. Damals hat sie schon weit vor den Spielen angefangen, ein Porträt zu zeichnen, das es als freundliches und offenes Land zeigt. Das ist der Regierung inzwischen völlig egal. Sie hat bereits die Bestätigung der Welt bekommen, dass die Volksrepublik als Supermacht anerkannt wird. Sie hat ihr China-Modell mit ihrer autoritären Herrschaft und einem starken Wirtschaftssystem längst etabliert. Sie propagiert es sogar als bessere Alternative zur Demokratie. Sogar laute Kritik von außen wird diese Rolle heute nicht mehr gefährden (Foto Olympische Ringe Peking 2008: abo-media/Arno Boes).
 
sj: Warum wird der Spielraum für Journalistinnen und Journalisten dennoch drastisch eingegrenzt?
 
Qin: Grundsätzlich macht kritische Berichterstattung auch die Arbeit von Autokraten immer etwas komplizierter. Aber es geht der chinesischen Regierung vor allem auch darum, Ansatzpunkte für Kritik zu verschleiern. Denn wenn das Ausland kaum noch Quellen findet, die zahllosen Schattenseiten einer Diktatur aufzuzeigen, dann könnten viele Menschen überall auf der Welt auf die Idee kommen, dass es gar nicht so schlecht ist, autoritär regiert zu werden. Denn die Wirtschaft läuft ja vielversprechend. Das würde der Herrschaft der Kommunistischen Partei in China viel mehr Legitimation verschaffen.
 
sj: Wie wirken sich die neuen politischen Rahmenbedingungen auf die Organisation der Spiele aus?
 
Qin: 2008 hat sich China zum Beispiel noch die Mühe gemacht, einen winzigen öffentlichen Raum zu schaffen, in dem demonstriert werden durfte. In der Praxis wurde dieser Raum zwar so gut wie nicht genutzt, weil Behörden und Sicherheitskräfte das zu verhindern wussten. Aber heute besteht nicht einmal mehr die Forderung nach einem solchen Raum, obwohl sich meines Wissens nach die Olympische Charta nicht verändert hat. Den Weg in Richtung Demokratie erwartet im Fall China niemand mehr. Das Regime weiß das und spart sich die Mühe, den Schein zu wahren.
 
sj: Weshalb betreibt das Land dann überhaupt noch den ganzen Aufwand, die Spiele ein zweites Mal auszurichten?
 
Qin: Einerseits, um im Ausland positive Konnotationen zu kreieren. Es geht nicht nur um Europa oder die USA, sondern auch um andere Nationen in Afrika, Asien oder Südamerika. Jedes noch so kleine Land kann zu einem Trumpf für China werden, wenn es um internationale Konflikte geht, die beispielsweise in den Gremien der Vereinten Nationen behandelt werden. Es geht auch um Zugänge zu Märkten oder Rohstoffen. Aber die Winterspiele sind auch sehr wichtig, um im eigenen Land positive Gefühle zu produzieren. Schon bei den Asienspielen der 1990er-Jahre in China hat die Regierung diesen Wert begriffen, um eine Form des Nationalismus zu schüren (Foto Peking-Boykottaufruf in Taiwan: picture alliance/ZUMAPRESS.com/Daniel Ceng Shou-Yi).
 
sj: Offiziell verurteilt China doch die Politisierung der Spiele.
 
Qin: Das ist natürlich eine absurde Behauptung. Die Olympischen Spiele sind ein hochpolitisches Ereignis, vor allem wenn sie in der größten und mächtigsten Diktatur der Welt stattfinden. Umso bedauerlicher ist es, dass autoritäre Staaten dennoch mehrfach den Zuschlag erhalten.
 
sj: Seit der Vergabe der Spiele 2015 hat sich die Wahrnehmung Chinas in der Welt zum Negativen verändert. Zahlreiche Regierungen und Parlamente demokratischer Staaten werfen Peking offiziell einen Völkermord in Xinjiang vor, dazu kommen die Entdemokratisierung Hongkongs oder die Drohungen gegen Taiwan.
 
Qin: Tatsächlich sind Xinjiang, Hongkong oder Taiwan keine Probleme, die erst nach 2015 aufgetreten sind, sondern sich jüngst nur dramatisch verschärft haben. Es stimmt zwar, dass die Wahrnehmung erst jetzt eine breite Öffentlichkeit erreicht. Aber für die chinesische Regierung ändert sich dadurch relativ wenig. Dort ist man es gewöhnt, alle Vorwürfe aus dem Ausland einfach als Lüge zu diskreditieren und das Gegenteil zu behaupten. Deutlich unangenehmer ist es allerdings für das IOC geworden, das sich nicht nur viel stärker rechtfertigen muss für die Vergabe an Peking. Stattdessen muss es jetzt auch noch fadenscheinige Gründe zusammenkratzen, weshalb es die chinesische Regierung nicht kritisiert und mit ernsthaften Konsequenzen droht.
 
sj: Aber es gibt eine ganze Reihe von Regierungen, die die Eröffnungsfeier diplomatisch boykottieren. Wirft das nicht ein schlechtes Licht auf die chinesischen Spiele?
 
Qin: Das tut es bis zu einem gewissen Grad. Aber eben auch kein Stück weiter. Die chinesische Regierung wird diese Spiele so oder so als riesigen Erfolg feiern. Im eigenen Land wird es den Menschen erzählen, dass andere Nationen dem chinesischen Volk diesen Erfolg nicht gönnen und dem Land neiden, dass es sich zu einem wirtschaftlich unverzichtbaren Faktor entwickelt hat. Auch die vielen Entwicklungsländer wird die chinesische Regierung versuchen, noch weiter auf ihre Seite zu ziehen. Das Narrativ, das es dort verbreiten wird, lautet: Seht, was passiert, wenn ihr erfolgreich werdet! Der Westen will euch klein halten. Wir aber sind eure wahren Freunde und fördern euren Wohlstand und euren Einfluss (Foto Peng Shuai bei US Open: picture alliance/Li Muzi).
 
sj: Hätte sich die chinesische Regierung Kritik des IOC an ihrem Umgang mit der Tennisspielerin Peng Shuai gefallen lassen?
 
Qin: Sicher nicht. Ein autoritäres System muss jede Form der Kritik harsch abwehren, um sein Machtmonopol zu stabilisieren. Deswegen hätte eine öffentliche IOC-Kritik zu einer Kontroverse geführt. Dann hätte es am IOC gelegen, daraus Konsequenzen zu ziehen oder eben nicht. Das IOC hat aber oft genug bewiesen, dass es autoritäre Staaten machen lässt, was sie wollen, solange es sicher sein kann, dass die Vergabe der Olympischen Spiele mit großer Dankbarkeit der Gastgeber gewürdigt wird.
 
sj: Was sagt uns der Fall Peng Shuai über das Gastgeberland der Winterspiele?
 
Qin: Er zeigt, welche Möglichkeiten eine autoritäre Staatsführung hat, um jede Form des Dissenses im Keim zu ersticken. Peng Shuai hat den Machtmissbrauch der Parteikader thematisiert. Und jetzt wird sie dazu gezwungen, den Schaden zu reparieren, den sie angerichtet hat. Sie muss das Spiel mitspielen, wenn sie sich selbst und ihre Familie in nicht noch größere Gefahr bringen will. Niemand ist in China sicher – nicht einmal, wenn man Wimbledon gewonnen hat.

Mit Qin Liwen sprach Marcel Grzanna. Hier geht es zur Facebookseite des freien Autoren.