„Da gerät man schon massiv in die Ecke“

Interview mit Spiegel-Sportchef Udo Ludwig

21.03.2022 Bereits seit 1990 ist Udo Ludwig beim Spiegel. Anlässlich des 75. Geburtstages des Hamburger Nachrichtenmagazins blickt der Sportchef im zweiteiligen Interview zurück. Doch er schwelgt nicht nur in Erinnerungen.
 
Als er schätzen sollte, wie oft es ein Sportthema seit Heft Nr. 1 vom 4. Januar 1947 in den darauffolgenden 75 Jahren auf den Titel schaffte (68-mal, erstmals übrigens im Februar 1948, anlässlich der Olympischen Winterspiele in St. Moritz), lag der Sportchef des Spiegel daneben. Pi mal Daumen – das ist eben nicht sein Metier. Udo Ludwig, Jahrgang 1958, mag es lieber hieb- und stichfest. Der gebürtige Westfale, Mitglied im Verein Hamburger Sportjournalisten, ist einer der besten und verdientesten Investigativjournalisten Deutschlands.

sportjournalist: Herr Ludwig, Sie sind seit 1990 beim Spiegel. Zunächst im Sport, dann viele Jahre im Deutschland-Ressort als Reporter und Rechercheur und seit 2016 als Ressortleiter zurück im Sport. 32 von 75 Jahren Spiegel haben Sie aktiv mitgestaltet, an vielen Titelgeschichten mitgewirkt. Welcher Titel aus dem Sport ist Ihnen persönlich am nachhaltigsten in Erinnerung?

Udo Ludwig: Jener zum – vorläufigen – Ende unserer Doping-Enthüllungen rund um das Team Telekom im Radsport. Das war emotional mit weitem Abstand der bedeutendste. Nach den Veröffentlichungen in den Jahren zuvor haben mein Kollege Matthias Geyer und ich viel öffentliche Prügel bekommen. Mit dem Erscheinen dieses Titels wurde das Thema für uns zu einem guten Ende geführt. Das vergisst man nicht. Das steht über allem anderen (alle Cover-Abbildungen: Spiegel).

sj: Sie wurden in der Folge mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Die Zeit zwischen dem Beginn der Veröffentlichungen 1999 bis 2007 aber mutet an wie ein Krimi, in der Ihnen und all den anderen Beteiligten des Magazins Hauptrollen zufielen. Brauchte man damals besondere Nehmerqualitäten? Gute Nerven?

Ludwig: Natürlich. Der Druck von außen war immens, mit nichts zu vergleichen, was ich bis dahin erlebt hatte. Das Team Telekom war seinerzeit das große Marketing-Instrument des Unternehmens, extrem wichtig. Die Anfeindungen, die wir damals erfahren haben, waren in all den Jahren einzigartig. Wir mussten einen Anzeigen-Boykott von mehreren Millionen hinnehmen, wir wurden persönlich verunglimpft vom damaligen Kommunikationsdirektor des Teams – und wir wurden verklagt. Da gerät man schon massiv in die Ecke.

sj: Kamen währenddessen Zweifel bei Ihnen auf?

Ludwig: Grundsätzliche Zweifel nicht. Man hinterfragt sich dennoch. Überlegt, ob man alles richtig gemacht hat. Aber man muss auf der anderen Seite auch wissen, dass man im Zuge solcher Recherchen und Veröffentlichungen viel aushalten muss. Und das mussten wir.

sj: Weitere Highlights aus Ihrer Sicht? Es gab ja zahlreiche große Enthüllungsgeschichten in all den Jahrzehnten – über die „Herren der Ringe“, den „verkauften Sport“ oder „Football Leaks“.

Ludwig: Sie zählen da gerade schon viele wichtige Themen auf. Einige davon habe ich nicht als Autor, sondern als Ressortleiter begleitet. Wenn ich mich auf meine gesamte Zeit beziehen soll, gehören in die Auflistung auf alle Fälle auch die Geschichten über den DFB …

sj: … die WM-Vergabe 2006, das „Sommermärchen“ ...

Ludwig: … und darüber hinaus. Es gab ja nicht nur die beiden großen Geschichten zu diesem Thema. Wir haben als Spiegel im Nachgang weiterhin sehr viel Ressourcen und Energie darauf verwandt, einen Verband, von dem wir glauben, dass er nicht richtig aufgestellt war, so zu beschreiben, wie wir es müssen. Letzten Endes sind drei DFB-Präsidenten – Wolfgang Niersbach, Reinhard Grindel und Fritz Keller – auch an unserer Berichterstattung gescheitert.

sj: Was steht bei Ihnen derzeit im Blickpunkt?

Ludwig: In letzter Zeit sind wir – weil mir das auch wirklich wichtig war und ist – vermehrt die Themen sexueller Missbrauch und körperliches Misshandlung im Sport angegangen. Da war die Kollegin Antje Windmann sehr stark. Das war ein völlig vernachlässigtes Feld. Ob im Boxen, Turnen, Schwimmen – da kam so viel zum Vorschein, das hätte ich mir vor einigen Jahren gar nicht vorstellen können, das hat mich überrascht. Wissen Sie: Korruption im Sport, das erwartet man irgendwann angesichts der Summen, die dort inzwischen bewegt werden. Da wäre es eher verwunderlich, wenn es Korruption nicht gäbe. Steuerhinterziehungen usw. – alles nicht so überraschend. Aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass sexualisierte Gewalt und Missbrauch im Sport so verbreitet waren. Und übrigens auch der Umstand, dass uns das Thema Doping bis heute nicht losgelassen hat. Ich dachte eigentlich mal vor ein paar Jahren, dass sich das Thema erledigt hätte. Das war eine Fehleinschätzung, die ich revidieren musste. Denn mir wurde irgendwann doch klar, dass sich das nie ändern wird. Schon deshalb, weil es hochattraktiv ist, zu dopen, allein aus wirtschaftlichen Gründen.
 
sj: Erinnern Sie sich an Ihre erste Spiegel-Recherche?

Ludwig: Sehr gut sogar, ja. 1990 war das, die Grenze zur DDR gerade geöffnet. Ich habe eine Reportage über das Sportinstitut Leipzig, das FKS, gemacht, bin direkt in meiner ersten Arbeitswoche dorthin gefahren – da waren die Türen noch nicht geöffnet. Ich habe dann versucht, das zu tun, was man als Reporter in einer solchen Situation eben tun sollte: Möglichst viele Türen zu öffnen.

sj: Wie läuft die Themenfindung des Magazins ab?

Ludwig: Über 80 Prozent aller Themen werden von den jeweiligen Redakteuren vorgeschlagen. Es ist also bei weitem nicht so, dass die Geschichten von oben vorgegeben werden. Gut zehn Prozent beruhen vielleicht auf Hinweisen und Impulsen des Ressortleiters, und um die fünf Prozent kommen von der Chefredaktion. In der Regel gilt: Wer die meiste Ahnung von einem Thema hat, schlägt eine entsprechende Geschichte vor.

sj: Wie ist das Standing des Sport-Ressorts bei der Platzvergabe?

Ludwig: Unser Standing ist gut, was wesentlich auch damit zu tun hat, dass die Bedeutung des Sports erheblich zugenommen hat. Der Sport hat mittlerweile eine hohe wirtschaftliche Bedeutung, ebenso eine hohe politische wie gesellschaftliche. Es gibt doch kaum Themen, die am Montag am Arbeitsplatz so leidenschaftlich diskutiert werden wie die Fußball-Bundesliga oder unter der Woche die Champions League. Die Relevanz ist schon sehr hoch. Dennoch: Der Spiegel ist ein politisches Nachrichtenmagazin, und da gibt es Themen, die relevanter sind. Aber müssen wir uns tagtäglich behaupten? Nein, auf keinen Fall.

sj: Dann ist es eine Legende, dass viele Texte für den Papierkorb geschrieben werden, auch im Sport?

Ludwig: Übersatz haben wir tatsächlich weitaus weniger als man es sich draußen womöglich vorstellt. Natürlich müssen wir uns manchmal auch mitten in einer Recherche hinterfragen: Ist das Thema überholt? Kommen wir nicht weiter? Bei den Telekom-Recherchen damals haben wir zwischenzeitlich erkannt: Wir müssen die Geschichte hinlegen, bis sie reif ist. Aber ist ein Thema durchrecherchiert, kommt es in der Regel auch ins Blatt.

sj: Haben Sie viele Texte in der Schublade, die bei entsprechendem Aufhänger – im zeitlichen Umfeld eines Events beispielsweise – herausgeholt werden?

Ludwig: Dies war früher ein Vorwurf an uns. Dass wir gezielt etwas zurückhalten, um für Aufruhr zu sorgen. Als wir zum Beispiel noch viel Leichtathletik-Stücke gemacht haben, oft zu Europa- oder Weltmeisterschaften. Das hatte aber nicht den Hintergrund, dass wir gezielt was zurückgehalten haben. Vielmehr versucht man eben zu einem Großereignis hinzurecherchieren, weil wir wissen, dass sich unsere Leser dann besonders für ein Themengebiet interessieren, und dann kommt man dabei manchmal auf Dinge, die halt zum betreffenden Zeitpunkt erst reif werden. Dahinter steckt kein Mastermind-Plan, das ist oftmals viel simpler im Redaktionsablauf als man meint. Zumal: Die Gefahr, dass andere die Geschichte auch aufspüren, muss man ja auch einkalkulieren. Wir sind der Wahrheit verpflichtet – was wir haben, muss dann raus, ohne darauf zu spekulieren, womit wir die größte Wirkung erzielen.

sj: Stichwort Wahrheit. Zu 75 Jahren Spiegel gehört auch der Fall Claas Relotius. Gab es vergleichbare Fälle im Sport?

Ludwig: Nein. Natürlich aber hat dieser Fall den ganzen Laden gehörig durchgeschüttelt. Wir haben uns alle gefragt, wo wir Fehler gemacht haben, haben versucht, Dinge zu analysieren, umzustellen. Für uns war der Fall Relotius besonders bitter, weil wir viele Qualitätssicherungsmaßnahmen im Haus haben. In der Dokumentation, in der Schlussredaktion, in den Sekretariaten. In der Chefredaktion. Da hatten wir schon den Anspruch: „Uns geht nix durch.“ Und wenn man dann trotzdem einem Betrüger auf den Leim geht, tut das schon sehr weh.

sj: Angesichts der Komplexität Ihrer Sport-Themen: Wie wichtig ist das Zusammenwirken der Ressorts? Holen Sie sich regelmäßig die Expertise aus anderen Sparten?

Ludwig: Das halte ich für eine der wesentlichen Stärken des Spiegels – die Zusammenarbeit der Ressorts untereinander, selbst wenn es draußen manchmal anders erscheinen mag, ist schon stark. Wir arbeiten viel mit dem Deutschland-Ressort, auch mit dem Wirtschafts- oder Gesellschaftsressort zusammen. Diese Interaktion macht den Sportteil stärker. Das ist übrigens nicht nur Wille, sondern auch Zwang – ohne das Knowhow anderer ginge es oftmals gar nicht.

Mit Udo Ludwig sprach Frank Schneller. Den zweiten Teil des Interviews lesen Sie in der April-Ausgabe des sportjournalist-Newsletters. Dann geht es unter anderem um Gegenwart und Zukunft des Sportjournalismus.