„Der Beruf wird unattraktiver“

Interview mit Spiegel-Sportchef Udo Ludwig

22.04.2022 Print, Online, der mediale Wandel, die Zukunft: Im zweiten Teil des Interviews zum 75-jährigen Jubiläum des Spiegel spricht Sportchef Udo Ludwig über Themen, die nicht nur ihn und das Hamburger Nachrichtenmagazin bewegen. Seine Befürchtung: Es wird immer weniger gut ausgebildete Journalist*innen geben.
 
Als er schätzen sollte, wie oft es ein Sportthema seit Heft Nr. 1 vom 4. Januar 1947 in den darauffolgenden 75 Jahren auf den Titel schaffte (68-mal, erstmals übrigens im Februar 1948, anlässlich der Olympischen Winterspiele in St. Moritz), lag der Sportchef des Spiegel daneben. Pi mal Daumen – das ist eben nicht sein Metier. Udo Ludwig, Jahrgang 1958 und seit 1990 beim Spiegel mag es lieber hieb- und stichfest. Der gebürtige Westfale, Mitglied im Verein Hamburger Sportjournalisten, ist einer der besten und verdientesten Investigativjournalisten Deutschlands. Im ersten Teil des zweiteiligen Interviews ging es unter anderem um kritische Spiegel-Storys und die heftigen Reaktionen darauf.

sportjournalist: Herr Ludwig, wie scannt Ihr Ressort die Medienlandschaft? Wie die Nachrichtenlage?

Udo Ludwig: Das hat sich sehr gewandelt. Als ich beim Spiegel anfing, waren wir noch viel mehr auf die Aktualität bezogen. Durch den medialen Wandel aber ist auch bei uns im Sport eine Entwicklung zu sehen: Was die Tageszeitungen heute machen, ist das, was vor ein paar Jahrzehnten klassischerweise die Wochenmagazine gemacht haben – Hintergrundberichterstattung, mitunter auch sehr magazinige Beiträge. Unser Ziel ist es deshalb, einen Schritt voraus zu denken, dem Leser zu zeigen, was in der kommenden Woche wichtig ist (alle Cover-Abbildungen: Spiegel).

sj: Dem hohen Tempo trägt derweil das Online-Angebot Rechnung.

Ludwig: Und das ist teilweise ein Segen. Wir können sehr viele tagesaktuelle Themen dort abfangen, sich weiterdrehende Themen online aufbereiten, verfolgen, dranbleiben. Damit einhergeht, dass wir dann am Wochenende im Heft noch magaziniger sein können, noch exklusiver. Übrigens nicht nur bei investigativen Geschichten. Sondern auch wenn es um unterhaltende Magazinbeiträge geht. Auch da müssen wir zusehen, dass wir Leute und Themen im Blatt haben, die nicht schon überall in den Medien waren. Man darf jedoch nicht den Fehler machen, sich komplett von der Aktualität zu entkoppeln. Man muss schon im Auge behalten, dass wir über die Themen schreiben, die die Leute gerade interessieren.

sj: Die Symbiose zwischen Print und Online ist mitunter schwierig – das hat der Spiegel zwar nicht exklusiv, er ist hier aber eben auch keine Ausnahme.

Ludwig: Wir merken natürlich, dass das ein Marathonlauf ist. Man verschmilzt nicht mal eben Print und Online – das ist schon ein komplizierter Prozess. Und in unserem Fall ist er besonders schwierig, weil wir ein Wochenmagazin sind, das mit einem tages- und sogar stundenaktuellen Medium verschmilzt. Wir haben vor drei Jahren die Fusion auf den Weg gebracht und sind auf einem sehr guten Weg, wie ich meine. Aber zu glauben, dass das immer nur ein Zuckerschlecken ist – das kann man sich natürlich abschminken. Das muss übrigens auch so sein. Wir wären ja schlechte Ressortleiter, wenn wir in dem Prozess nicht versucht hätten, die jeweiligen Interessen – Online- und Magazingeschäft – bestmöglich zu vertreten.

sj: Für ein wöchentliches Nachrichtenmagazin zu arbeiten, ist speziell. Die Arbeitsweise ist eine besondere. Dazu der Selbstanspruch und das Selbstverständnis. Da ist man schnell in der Rolle des Sonderlings. Das muss man mögen.

Ludwig: Wenn man so arbeitet wie wir, führt das natürlich zur Vereinzelung. Die Verbrüderung mit den Kolleginnen und Kollegen habe ich bis auf wenige Ausnahmen eigentlich nie mitgemacht, weil wir eben auch ganz anders arbeiten. Das mag einem als arrogant ausgelegt werden, ist es aber gar nicht. Unsere Arbeit fängt eben in der Regel erst dann an, wenn alle anderen ihre Zitate schon im Kasten haben.

sj: Sie stehen abseits der Party.

Ludwig: Das ist richtig. Ich erlebe aber, dass sich eine Professionalisierung vollzieht. Diese Verbrüderungen im Sport, besonders auch mit den Sportlern, gab es früher deutlich häufiger als das heutzutage der Fall ist. Dass man sich quasi als eine Einheit gesehen hat. Bei uns war das schon immer so, dass wir die Distanz gewahrt haben. Heute übrigens mache ich das vermehrt auch bei anderen aus (Partygast-Foto: firo sportphoto/augenklick).

sj: Tatsächlich? „Wir sitzen doch alle in einem Boot“ – nimmt diese Haltung aus Ihrer Sicht ab?

Ludwig: Ich finde schon. Wenn man sich den wichtigsten Berichtsgegenstand anschaut, den Fußball, hat das allein schon damit zu tun, dass die Zugänge wesentlich schwieriger geworden sind. Es ist eben nicht mehr so, dass wir Sportjournalisten Berichterstatter und Fan sind. Und: Die Vereine haben selbst eine gewisse Mauer aufgebaut. Die brauchen uns nicht mehr so sehr wie noch vor einigen Jahren. Das befördert den von mir wahrgenommenen Trend.

sj: Abschirmung und vorproduzierte Inhalte machen die Arbeitsbedingungen inzwischen viel schwieriger, vor allem im Tagesgeschäft. Der Spiegel hat aufgrund seiner Herangehensweise weniger Probleme, oder?

Ludwig: Doch, doch. Wir merken schon auch, dass die Spieler und die Vereine die Medien überhaupt nicht mehr brauchen, um ihre Meinung in die Öffentlichkeit zu tragen. Die machen das über Social-Media-Kanäle. Auch wir vom Spiegel sind im Zuge dessen nicht mehr der Ansprechpartner, der wir vielleicht mal vor ein paar Jahren noch waren. Wenn ein Trainer oder Spieler sich vor 20 Jahren mitteilen wollte, hat er sich das Medium ausgesucht, das seiner Meinung nach die größte Relevanz hatte – und das war eben oft auch der Spiegel. Heute sucht und bedient er sich seiner eigenen Kanäle.

sj: Wie finden Sie denn die Zunahme selbstproduzierter Inhalte?

Ludwig: Es ist egal, wie ich das finde. Es gibt diese Entwicklung und wir werden das Rad nicht mehr zurückdrehen. Wir müssen einfach damit umgehen. Aber wir haben als Journalisten eine Verpflichtung, dies nicht nur 1:1 zu übernehmen und uns zum Büttel derer zu machen, die uns das vorkauen. Wir müssen das alles einordnen, kritisch hinterfragen. So hat sich unser Job eben verändert: Wir können gar nicht mehr so oft die Nachricht als solche verbreiten, die ist sowieso schon auf dem Markt. Wir müssen vielmehr schauen: Ist das die Wahrheit? Welche Hintergründe werden nicht ausgeleuchtet? Das ist unsere Aufgabe. Noch viel mehr als früher.

sj: Sie selbst haben sich neben Ihrer Tätigkeit beim Spiegel als Dozent auch um den Reporternachwuchs gekümmert. Werden die nächsten Generationen ein ganz anderes Verständnis von Medien und deren Nutzung haben? Richtig recherchieren können?

Ludwig: Wir haben durchaus noch ein hervorragendes Repertoire an Talenten. Ich habe auch jahrelang nicht zu den Kulturpessimisten gezählt, die nicht an die Zukunft des Qualitätsjournalismus glauben. Ich sehe nur, dass sehr viele Medien ihre Investitionen in die Ressourcen der Redaktionen sehr stark zurückgefahren haben – und das geht automatisch auf die Qualität. Kolleginnen und Kollegen werden nicht mehr so gut bezahlt, der Beruf wird unattraktiver. Das führt auch dazu, dass die Berufsanfänger nicht mehr so gut ausgebildet in den Job reingehen. Im Moment ist das Angebot an guten jungen Journalistinnen und Journalisten noch riesig, aber für die Zukunft wird das sehr, sehr schwierig werden.

sj: Ist das beim Spiegel anders?

Ludwig: Wir haben hier schon noch sehr gute Arbeitsmöglichkeiten. Die erlauben es uns, noch viel besser zu arbeiten als sehr viele der Konkurrenten auf dem Markt. Die Investitionen beim Spiegel in den Journalismus sind immer noch sehr groß. Und dass der Laden eben auch zur Hälfte den Leuten, die dort arbeiten, gehört, hat uns letzten Endes doch sehr, sehr gutgetan. Der Spiegel hat sich dem Strukturwandel nicht einfach ergeben. Wir sparen uns nicht tot.

sj: Sind Sie selbst noch gerne draußen als Reporter?     

Ludwig: Ich bin auch deshalb gerne im Deutschland-Ressort gewesen, weil ich jahrelang gerne draußen war. Dann kommt eine Lebensphase, in der man es genießt, ins Büro zu fahren und nicht jeden Tag quer durch die Welt zu reisen. Aber wenn ich als Ressortleiter doch noch mal unterwegs bin, merke ich sofort, welchen privilegierten, tollen Beruf wir haben. Was dabei übrigens sehr vernachlässigt wird: Wenn man rausgeht, hat man es in den meisten Fällen auch mit interessanten Begegnungen zu tun. Nicht nur, dass man sich an vielen Orten und in anderen Ländern aufhält, sondern dass man auf andere Kulturen, andere Charaktere und spannende Menschen trifft. Das ist unbezahlbar. Auch die Vielfalt: Nicht nur mit dem Star zu reden, sondern mit seinem Umfeld – Trainer, Berater, Anwalt. Das sind zum Teil ja die viel spannenderen Begegnungen.

sj: Drückt sich das denn auch in der Spiegel-Schreibe aus? In den Texten?

Ludwig: Das müssen andere beurteilen. Portraits und Interviews jedenfalls dürfen auch wir keineswegs vernachlässigen. Der Spiegel ist ein Magazin, zu dem eben auch Unterhaltung gehört. Wir versuchen Leuten sportliche Geschichten näherzubringen, die sich vielleicht gar nicht so sehr für dieses Metier interessieren.

sj: Dennoch definierten Sie sich ja primär über die investigativen Geschichten. Wenn man so viele Missstände im Sport aufdeckt und nach immer neuen sucht, ist man da nicht irgendwann desillusioniert, was den Sport angeht? Ist es nicht anstrengend und manchmal sogar undankbar, Fans den ungetrübten Blick zu nehmen?

Ludwig: Naja, man muss – und das ist eben manchmal wirklich auch nicht ganz einfach – seine professionelle Haltung bewahren. Natürlich tut es weh, wenn man Menschen über Hintergründe aufklären, und Lesern, für die Sport in erster Linie Unterhaltung ist, sagen muss: „Sei nicht naiv.“ Dafür ist man aber halt beim Spiegel und dem Haus samt seiner Philosophie verpflichtet.

Mit Udo Ludwig sprach Frank Schneller. Der Journalist ist selbstständig tätig, er leitet das Hamburger Redaktionsbüro Medienmannschaft.