„Du hast Auschwitz überlebt, jetzt musst du auch leben“

Interview mit Journalisten-Legende Noah Klieger

31.07.2016 Noah Klieger ist einer der ältesten aktiven Redakteure der Welt. Am 31. Juli wird er 90 Jahre alt. Mit dem sportjournalist spricht der Auschwitz-Überlebende über seine Anfänge als Schreiber, geschenkte Tore und darüber, wie er sein Lebenstrauma überwand.
 
Noah Klieger (Foto: Christian Eichler) überlebte als „Boxer von Auschwitz“ das berüchtigte Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Sohn eines französischen Journalisten einer der weltweit angesehensten Sportjournalisten und -funktionäre. Am 31. Juli wird er 90 Jahre alt. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir das Interview, das FAZ-Redakteur Christian Eichler für die sportjournalist-Ausgabe 8/2015 geführt hat, noch einmal.

sportjournalist: Noah Klieger, warum sind Sie Sportjournalist geworden?

Noah Klieger: Aus dem einfachen Grund, dass ich kein Hebräisch konnte. Ich bin 1947 als junger Mann, als Überlebender von Auschwitz, nach Israel gekommen. Es gab keine Wohnungen, keine Arbeitsplätze, nur rationierte Lebensmittel. Ich hatte nach dem Krieg in Europa schon als Journaist gearbeitet wie mein Vater, aber in Französisch geschrieben, meiner Muttersprache. Und die Zeitungen hier in Israel druckten komischerweise Texte in Hebräisch. In den zehn Monaten in der Armee, in der ich im Unabhängigkeitskrieg kämpfte, lernte ich zwar Hebräisch sprechen, aber ich konnte es noch nicht schreiben.

sj: Dabei beherrschten Sie schon sechs Sprachen, Französisch und Deutsch hatten Sie zu Hause in Straßburg gelernt, Niederländisch, Polnisch und Jiddisch im KZ, Englisch im britischen Internierungslager auf Zypern.

Klieger: Stimmt, aber um Journalist zu sein, sollte man trotzdem auch in der Landessprache schreiben können. Zum Glück gab es eine kleine Wochenzeitung, betrieben von zwei jungen Leuten. Sie bestand nur aus vier Seiten und hieß Sport Israel. Sie hatten kein Geld für Agenturen, um an internationale Berichte zu kommen. So schrieben sie nur über israelischen Sport. Denen schlug ich eine Kolumne über den Sport in der Welt vor. Mein Vater lebte damals noch in Belgien, er schickte mir per Post immer L’Équipe Das dauerte drei Tage. Aber da ich für eine Wochenzeitung schrieb, hatte ich Zeit genug, daraus eine Kolumne zu machen. Und weil ich nicht Hebräisch schreiben konnte, habe ich denen das diktiert – die Nachrichten, die ich aus L’Équipe abschrieb.

sj: Später wurden Sie dann Korrespondent von L’Équipe.

Klieger: Ja, aber das ist eine andere Geschichte. Die paar Schekel, die ich von der Wochenzeitung Sport Israel bekam, hielten mich ein paar Jahre über Wasser. Und nach und nach wurde ich auch bekannt als Sportjournalist, obwohl ich gar keiner werden wollte. Sondern politischer Journalist (Foto Außengelände Auschwitz: GES-Sportfoto/Augenklick).

sj: Sie sind noch immer engagiert im Internationalen Basketball-Verband und dem Internationalen Sportjournalisten-Verband AIPS.

Klieger: Ja, ich habe mich immer für Basketball interessiert und wurde ein großer Spezialist, manche behaupten: bis heute. 1951 war ich der erste israelische Journalist, der zu einer großen internationalen Sportveranstaltung nach Europa geflogen ist, auf eigene Kosten: zur Basketball-EM in Paris. Ich habe von dort per Telegramm berichtet, etwas anderes gab es nicht.

sj: Heute gelten Sie mit 89 Lebens- und 58 Dienstjahren in beiderlei Hinsicht als ältester Redakteur der Welt.

Klieger: Ich arbeite seit 1957 bis heute bei Jedi‘ot Acharonot (Letzte Nachrichten), der größten israelischen Zeitung. 1959 flog ich noch als Freelancer für die Zeitung zum ersten Fußball-Länderspiel Israels in Osteuropa, gegen Polen in Wroclaw, dem früheren Breslau. Wir verloren 2:7, und die zwei Tore für Israel waren eigentlich Abseitstore. Nach dem Spiel saß ich mit dem Schiedsrichter in der Hotelbar und fragte ihn: „Wieso hast du die beiden Tore gegeben?“ Er sagte: „7:0 oder 7:2 ist doch egal, ist ja ein Freundschaftsspiel. Also habe ich euch die beiden Tore geschenkt.“

sj: In Polen hatten Sie die schlimmsten Jahre Ihres Lebens erlebt.

Klieger: Ja, ich war zum ersten Mal nach dem Krieg dort. Von Wroclaw fuhr ich nach Auschwitz und schrieb eine Reportageserie, die den Chefredakteur dazu bewegte, mich sofort fest einzustellen (Foto: Christian Eichler).

sj: Sie haben noch 2010, mit 84 Jahren, von der Basketball-WM in der Türkei berichtet.

Klieger: Ich spreche auch immer noch Kommentare in Fernsehen und Radio zu sportlichen oder sportpolitischen Themen. So habe ich schon vor zwei Jahren gesagt, dass Katar die WM 2022 nicht ausrichten wird. Weil sie die WM gekauft haben. So bin ich dem Sport immer noch verhaftet geblieben.

sj: Auch als Fan?

Klieger: Ich bin bis heute ein großer Sportfan, interessiere mich für Basketball und Fußball, Leichtathletik und Schwimmen. Nur für Boxen nicht mehr, obwohl ich in Auschwitz in der berüchtigten Boxstaffel des Lagerkommandanten Heinrich Schwarz gekämpft habe. Das war mal der Sport Nummer eins in der Welt, in den 1920ern und 1930ern, und die Boxer waren die bekanntesten und bestbezahlten Sportler der Welt. Boxer wie Victor „Young“ Perez, der einst der jüngste Profiweltmeister der Geschichte war und später in Auschwitz ebenfalls in der Boxstaffel kämpfte. Er wurde vor meinen Augen beim Todesmarsch aus Auschwitz im Januar 1945 von der SS erschossen, weil er die Marschordnung nicht eingehalten hatte. Später habe ich das für L’Équipe aufgeschrieben.

sj: Was stört Sie am heutigen Boxen?

Klieger: Heute ist Boxen ein Witz, mit den unzähligen Gewichtsklassen und Verbänden.

sj: Israel, 1948 gegründet, war ein junger, ständig bedrohter Staat. Viele Menschen dort hatten den Holocaust überlebt. Wie ging man mit dieser schrecklichen Erinnerung um?

Klieger: Wir Überlebenden hatten jahrelang damit zu tun, um über das Erlebte hinwegzukommen. Ich war einer der Schnellsten, weil ich begonnen hatte, davon zu erzählen. Das hat mich von dem Trauma, das wir alle hatten, etwas befreit. Für mich ist es eine Aufgabe, darüber zu sprechen. Ich habe das Tausende Male getan, in der ganzen Welt (Foto Gedenkraum in Auschwitz: GES-Sportfoto/Augenklick).

sj: Wie gelang es, zu so etwas wie normalem Alltag zurückzukehren?

Klieger: Damals habe ich zu mir gesagt: Du hast es überlebt, jetzt musst du auch leben. Leben wie jeder normale Mensch, Mädchen kennenlernen, vielleicht mal heiraten. Wir mussten uns anpassen an den Alltag, viele haben das nicht geschafft. Ich habe es geschafft. Ich bin zu einem einigermaßen normalen Menschen geworden, was nicht leicht war. Der Sport und der Sportjournalismus haben mit dieser Geschichte nicht viel zu tun. Aber sie waren für mich das erste Mittel, Normalität zu erleben und zu überleben in Israel. Mich einleben zu können.

Mit Noah Klieger sprach Christian Eichler

Eine längere Fassung des Interviews mit Noah Klieger findet sich in der Ausgabe 8/2015 des sportjournalist. Heft- und Abobestellung sind direkt beim Meyer & Meyer Verlag möglich. VDS-Mitglieder können sich das Heft als PDF im Mitgliederbereich kostenlos herunterladen.