Die Jagd nach dem Beststeller-Score

Linktipp „QualiFiction“

20.12.2019 Flops sind schlimm. Zumindest nach landläufiger Meinung. Nur noch literarische Hits zu landen – das ist das Ziel des Hamburger Start-ups QualiFiction. Die Gefahr, dass dadurch vorwiegend langweilige Standardware entsteht, ist durchaus gegeben.
Autor: Clemens Gerlach
Der Traum wird wahr. Oder ist es ein Alptraum? Das Unternehmen QualiFiction bietet eine „Software zur Vorhersage von Bucherfolgen & Analyse von Texten“ an. Klar, so etwas funktioniert nur mit und dank Algorithmen und Künstlicher Intelligenz.
 
Vermutlich wären an denen Thomas Mann oder Franz Kafka im Kampf um einen möglichst hohen „Bestseller-Score“ kläglich gescheitert (inzwischen spricht die Firma lieber vom „aussagekräftigeren Leserpotenzial“). Zu lange Sätze, zu komplizierte Konstruktionen, überhaupt nicht auf den Punkt, vor allem keinerlei Merchandising-Chancen. Ohne Line Extension geht hier nämlich gar nichts mehr. Und Tschüss, ihr Literaten (in spe)!
 
Bedauerlicherweise arbeitet die Hamburger Firma, die unlängst auf der Frankfurter Buchmesse zum „Content-Start-up des Jahres“ gewählt wurde, nicht an einer sinnvolleren Innovation, nämlich der, dass mithilfe modernster Technik erfolgversprechende, aber inhaltlich vollständig irrelevante Redundanz-Werke schon vor deren Erscheinen eingemottet werden. In einer nach möglichst schneller und hoher Rendite strebenden Medienwirtschaft ist das natürlich nicht zu erwarten.
 
Lieber wird in aller Regel der x-te Nachkau-Schinken der Kategorie „Nummer sicher“ publiziert, als dass ein Risiko eingegangen würde. Die Leute haben es schon schwer genug, da sollen sie nicht auch noch durch Literatur gequält werden. Mit der Fehlerkultur ist es hierzulande nicht weit her.
 
Geredet wird über diese zwar viel, selbst 08/15-Manager machen sich inzwischen Samuel Becketts „Fail better“-Diktum zu eigen, leider nur verbal in Corporate-Videos, bei irgendwelchen Branchentreffs oder als Claim für den eigenen, ach so flotten, Social-Media-Account.

„Guido Maria Kretschmer ist der Mann, dem die Frauen vertrauen“
 
Wenn es in der Praxis darauf ankommt, bleibt die Fortschrittlichkeit zumeist auf der Strecke. Dann heißt es Methusalix statt Beckett: „Ich habe nichts gegen Fremde, aber diese Fremden sind nicht von hier.“ Insofern ist es auch nur konsequent, dass auf dem hiesigen Printmarkt zuvorderst Publikationen gestartet werden, die um hinlänglich eingeführte, also marktbewährte Klappt-immer-Allzweck-Promis oder YouTube-gestählte Influencer gestrickt sind.
 
Diese Wohlfühl-Druckerzeugnisse heißen zum Beispiel BARBARA (La Schöneberger). Auch in diesem Sediersegment zuhause ist GUIDO. Was sagt der Verlag, der die beiden rezeptfreien Tranquilizer unters Volk bringt? „GUIDO ist das Magazin, das die Frauen liebt. GUIDO ist Guido Maria Kretschmer, Designer und der Mann, dem die Frauen vertrauen.“ Wer so etwas schreibt, verachtet sein Publikum. Das ist klar – auch ohne Analyse-Software.

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