Grobe Sprache, schrumpfende Qualität

Verfallserscheinungen

22.08.2018 Steht es wirklich so schlimm um die Medien? sportjournalist-Autor Gregor Derichs findet: Ja! Journalismus gebe es noch immer, aber immer seltener.
 
„Die Distanz ist weg, die Qualität auch“, so begann ein zur Fußball-WM veröffentlichtes Interview der Süddeutschen Zeitung mit dem Schriftsteller Jürgen Roth über die Berichterstattung. „Das ist sprachlicher Schrott“ – die Überschrift bezog sich auf Flash-Interviews, die von TV-Kollegen auf dem Spielfeld geführt werden. Roths Analyse: drastischer sprachlicher Verfall.
 
Seit Mitte der 1970er-Jahre arbeite ich im Sportjournalismus. In Russland erlebte ich die zehnte WM – es war zugleich die erste, die ich vor dem Finale beendete. In der Spanne von 36 Jahren gab es extrem viele Veränderungen, von denen einige auch Einfluss auf die Sprache haben könnten. Die weltpolitische Lage war 1982 übrigens so angespannt wie heute.
 
Afghanistankrieg und atomare Aufrüstung hatten den Kalten Krieg aufgeheizt, im Sport führte dies zu den Olympia-Boykotts 1980 und 1984, der Falklandkrieg zwischen Briten und Argentiniern wirkte in die WM hinein. Die Sicherheitskontrollen waren strikt und unangenehm, Spanien stand noch unter der Franco-Diktatur. Für unsere Jobs setzte in der Zeit eine technologische Evolution ein. 1982 gehörten Gabriele, die tragbare Schreibmaschine, lange Textdiktate und hohe Telefonkosten zu Journalistenreisen dazu.
 
Ab Olympia 1984 wurde der erste Laptop benutzt. Der damit verbundene Akustik-Koppler musste auf den Telefonhörer gepresst werden. Unabhängig vom Festnetz wurde man erstmals bei der WM 1990, das befristet ausgeliehene Funkgerät war schwer wie ein Backstein.
 
Zum Standard wurde Mobilfunk erst ab etwa 1995, nun ließ sich das Handy auch mit dem Notebook verbinden. Alles blieb zäh, sparte aber viel Mühe im Vergleich zu den füheren Zeiten. Der technische Fortschritt steigerte den Aktualitätsdruck. Stress macht Medienprodukte (inklusive Sprache?) aber selten präziser und abwägender.

Ein Spiel wuchs zum Vier-Stunden-Event plus Talk

Wie bei den Zeitungen und Agenturen erfuhren die Arbeitsbedingungen beim TV große Veränderungen. Dort war der Markteintritt des Privatsender der bedeutendste Einschnitt. Als sie zu Beginn der 1990er-Jahre Fußballrechte kauften, wuchs ein Spiel zum Vier-Stunden-Event plus Talk. Damit die Kollegen allein ihre Interviews führen konnten, wurden die Mixed Zones und die Trennung der Gattungen eingeführt. Über das dort Gesagte wurde wiederum berichtet – ein sich selbst fütterndes, zu Banalitäten neigendes System entstand.

Lange arbeitete jede Redaktion in der Tagesproduktion abgekapselt für sich, Konkurrenzbeobachtung war nicht möglich. Print konnte seine Exklusivität oft solange wahren, bis das Blatt auf dem Markt war. Erst das Internet führte zu einer durchlässigen Medienlandschaft. Aber das Netz war Mitte der 1990er-Jahre gewissermaßen leer. Erst als der Content umfangreicher geworden war, konnte man es als Recherchehilfe nutzen (Kamera-Foto: firo sportphoto/Augenklick).
 
Zur WM 2002 bekamen freie Kollegen erste Aufträge von Website-Betreibern, einige Kollegen mussten nun neben der Print- die Digitalausgabe ihres Verlages füllen. Das Netz setzte die Transformation unseres Berufsstandes in Gang. Der Sinkflug von Auflagen und Anzeigenaufkommen kostete Jobs und machte das Arbeitsklima rauer. Im TV-Bereich wechselten die Jobmöglichkeiten mit den Rechteinhabern.

Die Distanz ist groß, die Qualität weg
 
Langsam entstanden aber auch Stellen bei Internet-Portalen, auf denen ohne Kontakt zum Geschehen und zu den Handelnden getextet wurde. Die Distanz ist groß, die Qualität weg – das obere Roth-Zitat muss man nur umwandeln. Die Sprache wurde noch gröber und undifferenzierter, als die sozialen Medien zunehmend an Bedeutung gewannen.
 
Selbst klassische Medien ziehen aus diesen Kanälen, wo sich jeder mehr oder weniger intelligent produzieren kann, wieder neuen Stoff. Profisportler wie Journalisten nutzen sie zur Selbstinszenierung. Ein Halbsatz auf Twitter kann ein Wortgewitter auslösen. „Früher hieß es einmal: Wer schreit, hat unrecht. Heute gilt: Wer schreit, hat recht. „Das ist der Kulturbruch“, sagte Roth dem Kollegen Thomas Hummels. Mein Fazit: Journalismus gibt es noch immer, aber immer seltener.

Gregor Derichs ist seit 2001 als freier Sportjournalist tätig. Zuvor arbeitete der 64-Jährige unter anderem in verantwortlicher Position bei dapd, dpa und SID. Der ausgebildete Diplom-Sportlehrer trat als Mitautor wie Chefredakteur zahlreicher Bu?cher und Magazine in Erscheinung. Zu den Kunden seiner 2015 zusammen mit Dirk Graalmann gegründeten Agentur Derichs & Graalmann Kommunikation gehört unter anderem Fußball-Bundesligist Hoffenheim.

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe August/September 2018 des sportjournalist. Hier geht es zur Bestellung des Einzelheftes beim Meyer & Meyer Verlag. Mitglieder des VDS erhalten den alle zwei Monate erscheinenden sportjournalist automatisch per Post und können sich das Heft zudem im Mitgliederbereich kostenlos als PDF herunterladen. Dies gilt auch für ältere Ausgaben.