„Das große ‚Wir’ schwebt über allem“

Herausforderungen für Sportjournalismus – Teil II

30.11.2018 Sportstars haben großen Einfluss – auch auf Journalisten. Kritische Interviews sind kaum noch möglich. Doch zu viel Nähe tut einer unabhängigen Berichterstattung ohnehin nicht gut.
Autor: Thorsten Poppe
Im ersten Teil des dreiteiligen Reports über die Herausforderungen für den Sportjournalismus ging es um die immer stärker werdende Tendenz, dass sich Spitzensportler, in diesem Fall Fußballer, abschotten. Medienvertreter werden als störendes Beiwerk empfunden und auch so behandelt. Viele lassen sich dies gefallen.

Dazu passt eine Beobachtung des Schriftstellers Jürgen Roth, der sich seit 20 Jahren mit der Sprache rund um den Fußball beschäftigt. In der Süddeutschen Zeitung erklärte er während der WM 2018, es gebe „so etwas wie Sportjournalismus im Fernsehen nicht mehr“. Früher sei das anders gewesen, erklärte Roth anhand eines Beispiels von der WM 1982, als ZDF-Mann Harry Valérien sich erdreistet habe, Breitner zu sagen, so könne man mit Journalisten nicht umgehen.
 
„Heute gibt es keine Kritik mehr“, sagte Roth, „was heute im Fernsehen verlangt wird, ist ein Gefolgschaftsjournalismus, ein Jubelpersertum, das sich in den Dienst der Sache, also der Mannschaft stellt. Denn das sind ja ‚Wir‘. Es ist das große ‚Wir‘, das über allem schwebt.“
 
Eine harsche Kritik, die jedoch den Kern der Erwartungshaltung an uns Sportjournalisten trifft: Wir sitzen mit im Boot. Mit der deutschen Mannschaft, die wir zwar begleiten und über die wir berichten dürfen, die wir aber doch bitte nicht kritisch hinterfragen sollen. Schließlich wollen wir doch alle Weltmeister werden, oder etwa nicht?!
 
Ein Blick auf das Selbstverständnis von uns Sportjournalisten hilft in der Analyse dieser Erwartungshaltung. Seit der Sport im Fernsehen eher Ereignisgestaltung als Berichterstattung ist, hat sich auch unsere eigene Berufsauffassung erheblich gewandelt. So stellte Prof. Michael Schaffrath vom Arbeitsbereich für Medien und Kommunikation der TU München schon 2011 in seiner Studie „Sein und Bewusstsein von TV-Sportjournalisten“ eine Wandlung fest.

„Die größte Zustimmung entfällt auf Aussagen wie ‚das Publikum möglichst neutral und präzise zu informieren‘ (92,1 Prozent), ‚möglichst schnell Informationen zu vermitteln‘ (85,2 Prozent) oder ‚dem Publikum Unterhaltung und Entspannung zu bieten‘ (79,2 Prozent)“, schrieb Schaffrath. „‚Kritik an Missständen zu üben‘ (54,4 Prozent) und ‚den Sport zu kontrollieren‘ (27,7 Prozent) werden immer seltener zu den originären Motiven gezählt.”

Kritisch nachzuhaken, das spielt nur noch eine nachgeordnete Rolle
 
Die Millionen Zuschauer an den Fernsehgeräten sollen unterhalten werden. Klar, auch mit journalistischer Berichterstattung. Aber den Finger auch mal in die Wunde zu legen und kritisch nachzuhaken, das spielt nur noch eine nachgeordnete Rolle. Wenn überhaupt.

Dabei ist das doch der Kern unserer Aufgabe – und ein wesentlicher Teil unserer Leitlinien im VDS. Darin heißt es unter Punkt 3: „Sportjournalisten/innen (…) üben eine öffentliche Kontrollfunktion aus. Sportjournalisten/innen setzen sich für einen humanen, von Korruption und Doping freien Sport ein.“
 
Die andere Seite der Medaille ist aber, dass wir Sportjournalisten bei kritischen Nachfragen unseren Zugang zu den Größen des Sports gefährden, über die wir berichten wollen und sollen. Eine schwierige, mitunter kaum zu bewältigende Gratwanderung, die nicht nur die TV-Kollegen meistern müssen. Bestes Beispiel dafür: die Abschluss-PK der WM 2018 mit FIFA-Präsident Gianni Infantino (Foto mit Russlands Präsident Wladimir Putin, rechts: GES-Sportfoto/Augenklick).
 
Kollege Matthias Friebe von der Sportredaktion des Deutschlandfunks twitterte aus dieser Pressekonferenz: „Eine Reihe von Fragen an Infantino beginnen mit Sätzen wie ‚Danke für die WM 2018‘ oder ‚Nice to have you here‘. Viele dieser Fragen kamen von Plätzen vorne links. Auf einigen dieser Stühle liegen orangefarbene Reserviert-Schilder.“
 
Am Ende der Pressekonferenz stand eine einzige kritische Frage zur Situation in Russland, die Fifa-Chef Infantino in einem dreiminütigen Monolog elegant umschiffte, ohne auch nur einmal das Gastgeberland zu erwähnen, berichtete Friebe weiter.

Lesen Sie im dritten und letzten Teil des Reports über die Herausforderungen für den Sportjournalismus, wieso es eine gute Strategie sein kann, sich gegen Reglementierungen durch Spieler und Vereine zu wehren.

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Oktober/November 2018 des sportjournalist. Hier geht es zur Bestellung des Einzelheftes beim Meyer & Meyer Verlag. Mitglieder des VDS erhalten den alle zwei Monate erscheinenden sportjournalist automatisch per Post und können sich das Heft zudem im Mitgliederbereich kostenlos als PDF herunterladen. Dies gilt auch für ältere Ausgaben.