Schmerzen und Stolz

50 Jahre WM-Halbfinale Deutschland gegen Italien

01.07.2020 Das WM-Halbfinale 1970 zwischen Deutschland und Italien in Mexiko war eine legendäre Partie. Zum 50-jährigen Jubiläum brachte das VDS-Mitglied Oliver Wurm unlängst ein spezielles Fußballheft heraus. Auch für Wolfgang Uhrig war es „Mehr als ein Spiel“. Auf sportjournalist.de erinnert er sich an den Klassiker, den er als SID-Reporter vor Ort miterlebte.
 
Das kommt jetzt alles noch einmal hoch in mir. Durch dieses große Foto mit Karlheinz Schnellinger. Wie der lange Blonde in eine Flanke von Jürgen Grabowski wuchtet, den Ball mit rechts erwischt und trifft – Ausgleich, 1:1, 90. Minute, Verlängerung! Im WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Italien 1970 in Mexiko-Stadt folgen die dramatischsten 20 Minuten der Fußball-Geschichte. Am Ende verliert Deutschland 3:4. Vor mehr als 102.000 Zuschauern im Aztekenstadion, ein Jahrhundertspiel – viel mehr als ein Spiel.

„Mehr als ein Spiel“, so heißt denn auch diese Erinnerung an den 17. Juni vor 50 Jahren. Ein Denkmal zum Jahrestag, frisch am Kiosk. Der in Hamburg lebende Oliver Wurm, früher einmal Redakteur bei Sportbild, ist Herausgeber und Chefredakteur. VDS-Mitglied Wurm führt mit seinem Magazin in die Fußball-Vergangenheit, eine 100 Seiten starke Chronik, mit opulenten Bildern, beeindruckenden Texten und Interviews (Cover-Abbildung: Fußballgold).

Man leidet wieder mit Franz Beckenbauer, der in der 65. Minute nach einem Foul gestürzt ist, in der Pause zur Verlängerung schulterverletzt und mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden liegt. Er wird bandagiert, sein Brustkorb und der rechte Oberarm wie bei einer Mumie eingewickelt.

Wohl niemals zuvor sah man einen Mut wie den des „Kaisers“, der über 20 Minuten lang tapfer weiterkämpft. Und dann diese großformatige Dokumentation zur nervenaufreibenden Dramaturgie der Verlängerung: 2:1 Müller (95. Minute), 2:2 Burgnich (99.), 2:3 Riva (104.), 3:3 Müller (110.), 3:4 Rivera (111.) – die Entscheidung. Keine Unterhaltung kann so viel bieten, kein Thriller kann stärkere Effekte haben.

„Da liegt einer am Boden. Burgnich ist soeben verstorben, aber nein ...“

Beim Anpfiff in Mexiko ist es 16.00 Uhr, daheim in Deutschland beginnt das Drama um 23.00 Uhr. Es wird eine Nachtschicht, für 35 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher. Reporter ist Ernst Huberty, Kollege Kurt Brumme erzeugt im Radio Bilder durch Worte. Und fesselt jetzt im Jubiläumsheft den Leser noch einmal mit O-Tönen von damals: „Da liegt einer am Boden. Burgnich ist soeben verstorben, sehe ich, aber nein, er steht auf, er steht auf – weil der Ball hereinkommt.“

Dazu Erinnerungen von Zeitzeugen. Schnellinger ist „im Augenblick des Glücks ganz leer im Kopf“. Willi Schulz klagt zu seinem spielentscheidenden Duell mit Roberto Boninsegna: „Wir hatten hinten richtig zu tun, das können Sie mir glauben.“ Der Tormann Sepp Maier nimmt sich den umstrittenen Schiedsrichter Arturo Yamasaki aus Japan noch einmal vor die Brust: „Er hat uns verpfiffen, diese linke Bazille. Fouls an Franz Beckenbauer und Uwe Seeler waren ganz klare Elfer. Der hat einfach weiterspielen lassen. Ein Wahnsinn!“ (Foto Wolfgang Uhrig und Gerd Müller: Fotoagentur Sven Simon).

Der 17. Juni vor 50 Jahren – was war da los? Bei Oliver Wurm erinnert sich Marcel Reif, er habe damals, mit 21, in einer Studenten-WG gelebt. „Ich spielte selbst als Libero beim Zweitligisten Mainz-Weisenau. Ich weiß noch, dass wir nicht etwa studentenmäßig alle unser Bierchen tranken, sondern schwarzen Tee – und wir rauchten Gauloises. Mein Vorbild hieß Beckenbauer. Wenn ich ihn spielen sah, wusste ich, dass es realistischer Weise mit meiner Profikarriere doch nichts eher werden würde.“

„Nach diesem Spiel kann ich kein italienisches Fahrzeug mehr fahren“

Oder diese Anekdoten. Ein 28-jähriger aus Ingolstadt verschenkt seinen Ferrari, denn „nach diesem Spiel kann ich kein italienisches Fahrzeug mehr fahren“. Ein Italiener in Köln findet nach der Rückkehr vom Fernsehen in einer Kneipe seine Habseligkeiten im Treppenhaus. Der deutsche Vermieter hat sie aus Wut über die Niederlage in zwei Kartons gepackt, er könne keinen Menschen beherbergen, der einer so unfairen Mannschaft zujubele. In Rom lässt ein Taxifahrer das Auto mit einer Schwangeren stehen, um in die nächste Kneipe mit einem Fernseher zu eilen – als er zurückkommt, sind sie zu dritt.

Ich bin damals 30 und berichte aus Mexiko neben dem späteren VDS-Präsidenten Karl-Heinz Cammann für den Sport-Informations-Dienst (SID). Weil die Agentur immer schnell „Stimmen zum Spiel“ braucht, gelingt es mir trotz aller Hindernisse, pünktlich mit dem Schlusspfiff unten im Kessel des Stadions zu sein. Kann auf dem Platz erste Reaktionen einfangen und einen tapfer lächelnden Gerd Müller begleiten, der stolz das Trikot von Giacinto Facchetti trägt, Kapitän der Italiener. „Mehr als ein Spiel“ – auch für mich.

Das Heft „Mehr als ein Spiel“ zum WM-Halbfinale Deutschland gegen Italien aus Oliver Wurms Fußballgold-Reihe kostet 7 Euro und ist im Handel erhältlich. Den Trailer zum neuen Heft gibt es auf YouTube. Weitere Informationen finden Sie auf der Website der Publikation. Dort können Sie das Magazin auch bestellen.