Wie ein junger ukrainischer Sportjournalist zum Soldaten wurde

Russischer Angriffskrieg

08.04.2022 Er ist 23 Jahre alt und ukrainischer Sportjournalist. Eigentlich. Denn jetzt ist Vladyslav Dunaienko Soldat und kämpft in seiner Heimatstadt Kiew gegen die russischen Invasoren. „Wenn wir sie nicht töten, töten sie uns“, sagt er im Gespräch mit sportjournalist.de.
Autor: Robert Witt
Vier Monate ist unser letztes Gespräch her. Ein kühles Getränk, eine herzliche Umarmung irgendwann nachts um 4.00 Uhr. Wir hatten uns damals versprochen, einander zu besuchen, wenn Corona irgendwann vorbei ist. Heute haben wir uns wiedergesehen. Die Pandemie ist in dieser einen Stunde in den Hintergrund gerückt. Ich wollte jedoch nie, dass der Krieg uns wieder zusammenführt.

Es ist ein später Mittwochabend. Ich befinde mich im Auto, als er mir aus heiterem Himmel schreibt. Jetzt würde es mit einem Anruf bei FaceTime passen. Tagelang hatte ich nichts von ihm gehört. Von jetzt auf gleich macht sich Nervosität breit, denn ich weiß, dass dies kein leichtes Gespräch werden würde. Ich rede mit einem Freund - und der steht mitten im Krieg mit Russland (Foto Vladyslav Dunaienko, links, und Robert Witt während des „AIPS Young Reporters“-Programms 2021: Chibuogwo Nnadiegbulam/AIPS Media).

Vladyslav Dunaienko ist 23 Jahre alt und ukrainischer Sportjournalist. Ich lernte ihn beim AIPS Young Reporters Programm im vergangenen November in der Schweiz kennen. Wir waren Sitznachbarn. Grünes Sweatshirt, bullige Uhr, gestylte Haare und diese Brille, die eigentlich nie perfekt auf dem Kopf saß. Dazu dieses charmant gebrochene Englisch. Ständig pendelte seine Aufmerksamkeit zwischen diesem beklebten Notebook und seinem Smartphone.

Es war faszinierend, Vlad bei seinen Wettgeschichten zuzuhören

„Ich muss parallel arbeiten“, verriet mir Vlad. Er ist das, was man einen Workaholic nennen würde. Beim gemeinsamen Abendessen erzählte er uns ständig von seiner Liebe für professionelle Sportwetten. Niemand am Tisch konnte etwas damit anfangen, aber es war faszinierend, ihm dabei zuzuhören.

Am 24. Februar 2022 veränderte sich unsere Welt, die von Vlad am stärksten. Während die Meldung vom russischen Angriff auf die Ukraine über die Ticker lief, befand er sich in Spanien, wo er die ukrainische Basketball-Nationalmannschaft als Reporter begleitet. Es hatte an den Tagen zuvor schon Hinweise auf einen russischen Angriff gegeben (Dunaienko-Foto: privat).

„Meine Familie sagte mir aber, ich solle los und mir keine Sorgen machen“, erklärt er mir. Früh am Morgen klingelte dann das Telefon. Seine Mutter erzählte von den Angriffen in der Nacht. „Es war ein Schock. Ich war so weit weg und konnte nichts machen“, sagt Vlad. Sport ist von diesem Zeitpunkt an nur noch eine Randnotiz.

Für Vlad ging es nur darum, so schnell wie möglich in die Heimat zurückzukehren. Unterwegs besorgte er sich Uniform, Helm und Handschuhe. Heute kämpft er in Kiew für sein Land und ums Überleben. Die Stadt, seine Heimat für mehr als 20 Jahre, ist heute ein Kriegsschauplatz.

Jeweils zwei Leute patrouillieren für zwei Stunden vor dem Gebäude

„Hier ist es leer, einfach leer“, sagt er. Vlad ist im Norden der Stadt stationiert. Ein kleines Gebäude, das als Unterschlupf dient. Zwölf Leute leben hier in einem kleinen Raum. Jeweils zwei Leute patrouillieren für zwei Stunden vor dem Gebäude, der Rest kann schlafen. Zwei im Bett, einer auf dem Stuhl. Einige schlafen in der Vorhalle, andere einfach auf dem Boden.

„Meine Schicht geht von 2.00 bis 4.00 Uhr, danach schlafe ich auf dem Boden bis 8.00 Uhr. Da ist es ehrlicherweise am gemütlichsten“, erzählt er. Vlad opfert eine Stunde Schlaf, als er mir vor dem Gebäude von seiner Geschichte erzählt. Es ist dunkel. Sein Gesicht sehe ich während unseres Gesprächs kein einziges Mal (Dunaienko-Foto: privat).

Die meisten seiner Kameraden kannte er vorher nicht. „Aber nach vier Wochen Krieg sind wir alle irgendwie Brüder“, fährt er fort. Unter ihnen ist auch sein eigener Vater. Zusammen „säubern“ sie die Straßen von „ihnen“, wie er es nennt. Seine Mutter hat das Land noch nicht verlassen, versucht stattdessen weiter im Westen der Ukraine dem Krieg zu entfliehen.

Vlad beschreibt mir detailliert, auf was er alles achten muss, wenn eine Rakete am Himmel zu sehen ist. Plötzlich unterbricht ein Geräusch unser Gespräch. „Ah, du hast es gehört? Wenn ich keine Kopfhörer benutzen würde, wäre es noch lauter“, kommentiert er den Moment, als im Hintergrund Schüsse fallen. „Für uns ist das normal. Das war noch harmlos. Jede Nacht greifen sie gegen 4.00 oder 5.00 Uhr an. Wir hören diese Geräusche jeden Tag. Wir haben uns daran gewöhnt.“

„Natürlich hasst man da einfach alles und jeden“

Ob er noch Kontakt zu Freunden in Russland habe, frage ich. „Ja, aber es ist anders als vorher, wenn du alte Bekannte von der Uni verloren hast, tote Kinder siehst und die Menschen, die dein Land verteidigen. Alte Arbeitskollegen und Journalisten, die jetzt tot sind. Natürlich hasst man da einfach alles und jeden.“ Ich fühle mich bei der nächsten Frage nicht wohl. Er solle selbst entscheiden, ob er antworten wolle, sage ich. „Hast du jemanden töten müssen?“

Vlad atmet einmal durch und setzt dann zur Antwort an. „Natürlich habe ich schon geschossen. Ob eine dieser Kugeln einen Menschen aber tatsächlich getötet hat, kann ich nicht sagen. Ich habe bis heute nicht auf einen Menschen gezielt und dann mit der Absicht, ihn zu töten, abgedrückt. Aber das ist heute. Was morgen ist, kann ich nicht sagen. Angst habe ich nicht, ich bin bereit“, sagt er und ergänzt: „Wir haben nichts mehr zu verlieren. Wenn wir sie nicht töten, töten sie uns.“ Ich habe Vlad das erste Mal so entschlossen gehört (Dunaienko-Foto: privat).

Wieder werden wir unterbrochen. „Hörst du das?“, fragt mich Vlad. Im Hintergrund sind Sirenen zu hören. Vlad schweigt, ich fühle mich hilflos. Eine endlose Minute lang starre ich auf einen schwarzen Bildschirm. Dann erklärt er mir, dass sie in den nächsten zehn Minuten einen Raketenangriff oder ähnliches zu erwarten hätten.

Wir verabschieden uns, damit er noch etwas Schlaf vor der nächsten Wachschicht bekommt. Wieder mit dem Versprechen, uns wiederzusehen. Ein kühles Getränk, eine herzliche Umarmung, wenn dieser Krieg vorbei ist. Ich klappe meinen Laptop zu und kann der Welt des Krieges wieder entfliehen. Mein Freund, unser Kollege, kann das nicht. Lieber Vlad, ich hoffe du bleibst gesund. Und wenn das alles vorbei ist, sprechen wir beide hoffentlich wieder über den Sport.

Robert Witt ist 28 Jahre alt und lebt in Schwerin. Er ist für den NDR und andere ARD-Anstalten als multimedialer freier Mitarbeiter tätig. Das „AIPS Young Reporters“-Programm, das vom 21. bis 26. November 2021 unter 2G+-Bedingungen stattfand, war seine erste Erfahrung mit Sportjournalist*innen auf internationaler Ebene. Einige Artikel und Fotos der Teilnehmer*innen, die in der Programmwoche entstanden sind, finden Sie auf der AIPS-Website. Vladyslav Dunaienko ist bei Instagram und Facebook vertreten. Aus diesen Accounts stammen auch die Fotos.