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Großer VDS-Preis

27.07.2022 Christopher Meltzer, München-Korrespondent der FAZ und Mitglied des VMS, hat mit „Das Auge der Athleten“ den Großen VDS-Preis im Rahmen der Berufswettbewerbe 2021 gewonnen. Sein Artikel erschien am 8. August 2021 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
 
Das Auge der Athleten

Die Perspektive macht die Spiele: In der Nahaufnahme auf den Bildschirmen springen, lachen, fallen die Sportler. Aber was haben sie gesehen in zwei Wochen Olympia?

Von Christopher Meltzer, Tokio
 
Auf dem Bildschirm im neuen Nationalstadion in Tokio, auf dem aus kleinen Figuren durch die Nahaufnahmen der Kameras große Figuren werden, sieht man ein paar Minuten vor Mitternacht das Gesicht einer Frau. Naomi Osaka, 23 Jahre alt, Tennisspielerin aus Japan. Man sieht in ihren Haaren rot und weiß, die Farben ihres Landes. Man sieht dann auch in ihren Händen eine Fackel, mit der sie davor das olympische Feuer entzündet hat. Und als sie in diesem Moment im Stadion steht, eine kleine Flamme vor und eine große hinter sich, können nicht nur die Funktionäre und Reporter auf der Tribüne sie sehen, sondern auch Millionen Menschen in fast allen Winkeln der Welt.
Eines aber sehen sie alle nicht: Was Naomi Osaka sieht.

An diesem Sonntag wird das olympische Feuer im Nationalstadion in Tokio nach mehr als zwei Wochen wieder erlöschen. Und wenn man nun schon mal zurückblickt auf diese Olympischen Spiele 2020, die im Sommer 2021 ausgetragen worden sind und auch sonst einzigartig waren, sollte man das nicht nur in der Nahaufnahme tun. Dort hat man, wie immer, Athleten rennen und stürzen sehen, springen und fallen, lachen und weinen. So funktioniert Fernsehen, so funktioniert Olympia. In der Nahaufnahme sieht man aber nur sehr selten, wie aus großen Figuren wieder kleine werden, wie aus Nähe wieder Ferne wird.

In der Nahaufnahme sieht man nicht, wie verdammt einsam man in diesen Tagen in Tokio sein konnte. Manchen hat diese Einsamkeit geschadet, manchen aber auch geholfen. Manche werden mit ihr den Anfang ihres olympischen Abenteuers verbinden, manche das Ende. Und wenn man nun also zurückblickt – zwei Wochen, von Freitag bis Freitag –, geht es vor allem auch um eine Frage, die sich vom Bildschirm aus nicht beantworten lässt: Was haben die Athletinnen und Athleten gesehen und gefühlt?

Tag eins. Am Abend der Eröffnungsfeier zieht sich der Fechter Richard Hübers in seiner Unterkunft das Outfit der deutschen Mannschaft an. Es sind seine ersten und letzten Olympischen Spiele, und weil er anders als seine Fechtfreunde, darunter Max Hartung, nur im Team- und nicht im Einzelwettbewerb am nächsten Morgen startet, meldet er sich als Teilnehmer für die Eröffnungsfeier an. Später wird er Hartung erzählen, dass er sich in dem Stadion ohne Zuschauer ein bisschen verloren gefühlt habe. Und was sagt Hartung über diesen Abend, den er vor dem Laptop und ohne seinen Freund verbracht hat? „Als ich gesehen habe, wie er sich das Outfit angelegt hat, da war ich sehr traurig.“ Er hätte das auch gerne gemacht.

Tag drei. Aus seinem Zimmer im Quarantäne-Hotel in Tokio gibt der deutsche Radfahrer Simon Geschke der Deutschen Presse-Agentur ein Interview. Er wird in den nächsten Tagen viele Interviews geben und über den Zustand in dem Zimmer sprechen, in dem er untergebracht ist, seit er am Tag der Eröffnungsfeier positiv auf Covid-19 getestet worden ist. Er wird in diesen Interviews aber nicht untergebracht sagen, sondern eher: eingesperrt. Nicht mal das Fenster lässt sich öffnen. Am achten Tag darf er Hotel und Land endlich verlassen. Auf Twitter schreibt er von der „unnützesten Reise meiner Karriere“. Und auch wenn er sich dieses Risikos bewusst gewesen sein wird und sich die Zustände im Zimmer mit der Zeit immerhin verbessert haben sollen, fühlte er sich in diesen Tagen nicht nur allein, sondern vor allem: alleingelassen.

Und dann noch Gold? Das wäre eine Geschichte, die den olympischen Geschichtenerzählern besonders gefallen würde.

Tag fünf. Auf dem Bildschirm sieht man wieder das Gesicht von Naomi Osaka, das Gesicht der Spiele. Dieses Mal nicht im Nationalstadion, sondern im Ariake Tennis Park, Center Court. An dem Ort, wo sie Gold gewinnen soll für das Land, das sie im Alter von drei Jahren verlassen hat. Sie zog mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten – auch weil ihre Mutter von deren Vater, Naomis Großvater, verstoßen worden ist, nachdem sie einen Mann mit schwarzer Haut geheiratet hatte. Nun ist Osaka mal wieder hier, in dem Land, für dessen Staatsbürgerschaft sie sich später trotzdem entschieden hat. Es heißt: auch wegen Olympia. Und dann noch Gold? Das wäre eine Geschichte, die den olympischen Geschichtenerzählern besonders gefallen würde. Jetzt also steht sie auf dem Center Court. Allein. Hinter ihr die Ergebnisanzeige: 1:6, 4:6. Aus im Achtelfinale.

Und so sagt Naomi Osaka, die stets die Last mit sich trägt, so viel mehr sein zu wollen und sein zu sollen als eine Tennisspielerin, später in der Interviewzone: „Ich denke, es liegt vielleicht daran, dass ich noch nie bei den Olympischen Spielen gespielt habe – und im ersten Jahr war es ein bisschen viel.“

Tag sieben: An seinem letzten Tag als Fechter steht Max Hartung in der Makuhari Messe, Halle B, und sagt, was ihm fehlt: „Dass Freunde und Familie das miterleben. Dass sie nah mit dabei sind, bei diesem besonderen Moment, auf den wir so lange gewartet haben, nach diesem harten Jahr der Routine, des Immer-wieder-Aufraffens, in dem sie uns unterstützt haben. Dass wir sie nachher in den Arm nehmen können.“ Er ist traurig, dass sie fehlen – und dennoch glücklich, dass wenigstens er da sein kann. Ein Kampf noch, gegen Ungarn um Bronze, dann war's das mit dem Leben als Profisportler.

Und obwohl es in diesem nicht für eine Medaille reicht, sagt er mit etwas Abstand ein paar Tage später am Telefon: „Es war als Abschluss für die Karriere superwichtig.“ Das konnte man noch auf der Bahn sehen, als er in seinem Anzug steckte. „Mir sind nach dem letzten Punkt die Tränen in die Augen geschossen.“ Und wenn es schon ums Weinen geht: „Mir ist das aufgefallen, dass ganz, ganz viele Sportler Tränen vergossen haben“ (Hartung-Foto: GES-Sportfoto/Markus Gilliar/augenklick).

Tag acht. Mit Tränen in den Augen steht Anna-Maria Wagner im Nippon Bud kan, dem Judo-Tempel in Tokio. Sie wird gleich eine Bronzemedaille überreicht bekommen – und danach sofort ihr Handy anschalten. So sagt sie es. Sie wird dort ziemlich sicher eine Nachricht von ihrem Vater lesen können, der eigentlich immer dabei war, seit sie für ihren Traum kämpft. Also seit fünf Jahren. „Es war schon alles gebucht, er wäre dabei gewesen“, sagt sie. Dann kam das Virus. Und dann kamen die Regeln. Keine Zuschauertickets, nicht mal für die Olympischen Spiele, nicht mal für die Menschen in Japan. „Ich weiß aber, dass meine Familie aufgestanden ist, mitgefiebert hat“, sagt Wagner. „Ich glaube, sie sind super stolz auf mich.“ Diese, das ist der Preis der Pandemiespiele, werden ihre Tränen hören und sehen, aber nicht trocknen können.

Tag elf. In der Qualifikation macht der Springreiter André Thieme, ein Olympia-Neuling, einen Fehler – und scheidet sofort aus dem Einzelwettbewerb aus. Auch das kann Olympia sein. In solchen Situationen können sich manche eigentlich mit dem olympischen Erlebnis trösten. Doch wenn man hört, was Thieme sagt, scheint es nicht nur der Wettkampf zu sein, der ihn enttäuscht hat: „Das Wohnen im Hotel macht es uns sehr schwer, wir langweilen uns dort zu Tode. Es fällt einem sehr schwer, das Olympiafeeling zu kriegen. Das Highlight war der Besuch im olympischen Dorf. Das sind schon sehr lange, zähe Tage mit viel Warten. Mir macht das schon zu schaffen.“

Ah, Deutschland, sagt sie, wollte sie auch schon immer mal hin, ein großes Bier trinken. Dann zeigt sie, wie groß das Bier sein soll und lacht.

Tag vierzehn. An der Straßenecke, wo der Olympia-Shuttlebus mit der Linie A545 Tag für Tag hält, steht meistens eine Frau aus Tokio. Sie ist 64 Jahre alt und hat sich offenbar vor so langer Zeit als Freiwillige für diese Sommerspiele gemeldet, dass sie gar nicht mehr weiß, wann genau das eigentlich war. Sie hat das damals gemacht, weil sie ein bisschen Englisch sprechen kann und sich sehr dafür interessiert, was die Menschen aus dem Ausland so zu erzählen haben. Ah, Deutschland, sagt sie, wollte sie auch schon immer mal hin, ein großes Bier trinken. Dann zeigt sie mit den Händen, wie groß das Bier sein soll und lacht. Meistens kann sie aber keine Bierglasgrößen mit der Hand zeigen und leider auch nicht lachen. Sie geht dann stumm die 95 Schritte von der Straßenecke zum Hotel, und die Reporter folgen ihr, obwohl sie sich den Weg schon nach dem ersten gemeinsamen Marsch gemerkt haben. Sie lässt sich das nicht anmerken. Sie steht immer wieder da.

Wenn man nun am Ende dieser Olympischen Spiele nicht nur Athleten, sondern auch Volunteers fragt, was sie in diesen Tagen von Tokio gesehen und gefühlt haben, dann sollte man sich noch mal an eine Beobachtung erinnern: Was hat Naomi Osaka wohl in dem Moment gesehen, als sie im Nationalstadion vor dem olympischen Feuer stand? Das kann man nicht sagen. Man kann aber sagen, was sie in diesem Moment nicht gesehen hat: Wie sich auf dem kleinen Platz vor dem Stadion die Japanerinnen und Japaner aufgestellt haben, um sich einmal mit den olympischen Ringen und dem Nationalstadion im Hintergrund zu fotografieren.

Am Ende der Eröffnungsfeier gab es ein Feuerwerk für alle – und wenn man es sich nicht in der Nahaufnahme angeschaut hat, lieferte die Perspektive die passende Pointe. Drinnen standen Athletinnen und Athleten, für die diese Spiele organisiert worden sind und die sie nun mit einem Jahr Verspätung auch erleben durften. Und draußen standen die Japanerinnen und Japaner, für die diese Spiele auch organisiert worden sind und die sie aber mit einem Jahr Verspätung nicht erleben durften. Und vielleicht auch nie wieder erleben können.