Bericht des VMS-Stipendiaten Vinzent Tschirpke

Neutral bleiben – selbst beim eigenen Verein

22.11.2022

Für Vinzent Tschirpke ist Glaubwürdigkeit ein hohes journalistische Gut. Wie er dieses in der Arbeitspraxis erreicht, schildert der aktuelle VMS-Stipendiat auf sportjournalist.de.

 

Seit Oktober 2021 befindet sich Vinzent Tschirpke an der Deutschen Journalistenschule in München. Der aktuelle VMS-Stipendiat gehört der 60. Lehrredaktion an. In seiner Schulzeit schrieb Tschirpke für die Westfälischen Nachrichten und nach dem Abitur im Lokalbereich der tz. Auf der VMS-Website finden hier Informationen zum Stipendium und hier zum Helmut-Stegmann-Nachwuchs-Förderpreis für regionale und lokale Sportberichterstattung.

Als Sportreporter genieße ich einige Vorzüge: Ich berichte aus den größten Stadien Deutschlands, interviewe spannende Personen und beschäftige mich den ganzen Tag mit meiner großen Leidenschaft – dem Fußball! Während meiner Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule habe ich dafür natürlich weniger Zeit als vorher (was nicht bedeutet, dass ich nicht trotzdem den Großteil des Tages damit verbringe, mir mögliche Aufstellungen für den nächsten Bundesliga-Spieltag zu überlegen); trotzdem versuche ich immer wieder, auch an einem neuen Ort wie der DJS meine Fähigkeiten als großer Fußballkenner unter Beweis zu stellen.

Vinzent Tschirpke Artikel (DJS) Eine der wichtigsten Regeln, die wir hier an der Schule beigebracht kriegen, lautet: objektiv berichten und neutral bleiben. Das heißt natürlich nicht, dass man als Journalist in den großen Fragen dieser Zeit keine Stellung beziehen darf. Trotzdem gilt es, immer die nötige Distanz zu wahren. Was mich zum Dilemma meines Besuchs in Bremen im Mai dieses Jahres führt (Tschirpke-Foto: DJS).

Eines vorweg: Ich bin seit meiner Kindheit großer Fan von Werder Bremen, wahrscheinlich sogar der größte in ganz Deutschland (zumindest kann ich mir keinen größeren Fan vorstellen). Deshalb wollte ich es mir nicht nehmen lassen, zum letzten Heimspiel von Werder im Mai zu fahren, um dabei den möglichen Wiederaufstieg in die Bundesliga zu bejubeln.

Nachdem ich Tickets bekommen und mir einen Zug von München nach Bremen gebucht habe, stellte sich mir aber die Frage: Warum nicht drüber berichten? Schließlich hat ja ganz Fußball-Deutschland mitgefiebert, ob den gefallenen Riesen Schalke und Bremen die direkte Rückkehr ins Oberhaus gelingt. Also habe ich parallel zum privaten Besuch als Fan ins Weserstadion dem Magazin 11FREUNDE angeboten, einen Text über das Spiel und das damit verbundene (Aufstiegs)-Wochenende in Bremen zu schreiben.

Das Problem: Wie soll ich damit umgehen, dass ich als Werder-Fan natürlich anders über den Bremer Aufstieg berichte als ein neutraler Sportreporter? Und dass mich ein möglicher verpasster Aufstieg natürlich mehr beschäftigen würde als einen Journalisten, der vielleicht Fan des VfB Stuttgart ist. Die Lösung: volle Transparenz!

Neugewonnenen Blickwinkel dafür nutzen, dem Leser eine zusätzliche Perspektive zu bieten

Denn natürlich gibt es genügend gute Gründe, warum man nicht über seinen Lieblingsverein berichten sollte. Wenn man es aber doch tut, dann kann man diesen neugewonnenen Blickwinkel dafür nutzen, dem Leser eine zusätzliche Perspektive zu bieten, die er oder sie sonst nicht bekommt.

Also habe ich mich dazu entschlossen, keinen Text über die sportlichen Aspekte des Bremer Aufstiegs zu schreiben, sondern aus dem Innenleben eines Fans zu berichten, der in den letzten zehn Jahren den stetigen Abstieg seines Lieblingsklubs miterlebt hat. Und der es jetzt kaum glauben kann, seit langer Zeit mal wieder über einen Erfolg seines Lieblingsklubs jubeln zu dürfen. Der Text mit der Überschrift „Glücksbesoffen von Werder Bremen – Lebenslang so nice“ erschien am Tag nach dem Aufstiegsspiel auf der 11FREUNDE-Website.

Für die Zeit als Sportreporter nach der DJS habe ich dabei zwei Sachen gelernt. Erstens: Wenn es geht, sollte man lieber über Themen berichten, zu denen man eine kritische Distanz wahren kann. Und zweitens: Wenn das nicht möglich ist, dann werde kreativ und nutze die neue Perspektive für deine Leserinnen und Leser! Wer einen Interessenkonflikt als (Sport)-Journalist transparent macht, wirkt automatisch glaubwürdig. Und Glaubwürdigkeit war für den gesamten Journalismus nie wichtiger als heute.