Interview mit Medienwissenschaftlerin Jana Wiske

"ARD und ZDF haben Großartiges geleistet, aber …"

02.09.2024

Die Sommerspiele von Paris wurden von den Öffentlich-Rechtlichen mit einem linearen Mammut-Programm begleitet. Das brachte Quoten, aber auch Kritik. Frank Schneller bat Jana Wiske um eine Einordnung.

 

sportjournalist: Frau Wiske, hingen Sie während der Olympischen Spiele von Paris auch ständig vor dem Bildschirm?

Jana Wiske: Fragen Sie mal meinen Mann, der hatte quasi zwei Wochen Zeit für sich… Im Ernst: Die Olympia-Begeisterung hatte mich total gepackt. Sofern es die Zeit zuließ, war ich vor dem TV dabei.  

sj: ARD und ZDF haben ein Mammutprogramm im linearen Fernsehen abgeliefert, dazu gab es einen unerschöpflichen Fundus an Livestreams. Die Einschaltquoten, für TV-Anstalten ja immer die entscheidende Währung, waren ausgesprochen hoch (53,4 Millionen Zuschauer sahen sich bei den Öffentlich-Rechtlichen Olympia an, 243 Stunden umfasste deren Berichterstattung; d. Red.). Das Gebührenfernsehen zieht eine entsprechend positive Bilanz. Wie fällt Ihr Urteil aus, abseits der Quoten?

Wiske: Die Kolleginnen und Kollegen von ARD und ZDF haben während der Sommerspiele in Paris Großartiges geleistet, insbesondere, wenn man die Vielfalt an Sportarten und die logistischen wie organisatorischen Herausforderungen berücksichtigt. Bei den Streaming-Angeboten blieben nahezu keine Wünsche offen. Die Detailverliebtheit und der Informationsgehalt selbst bei weniger populären Sportarten waren total beeindruckend. Auch die Unterstützung durch Expertinnen und Experten funktionierte hervorragend und war ein absoluter Mehrwert für die Zuschauer. Insofern: Respekt vor dieser Gesamtleistung und ein großes Lob. Dennoch gibt es einige Abstriche …

sj: … beginnend mit der Eröffnungsfeier, bei deren Übertragung sich Tom Bartels und Friederike Hofmann (Paris-Korrespondentin der ARD; d. Red.) eine Menge Kritik einhandelten …

Wiske: … wobei ich hier gleich relativieren möchte: Die Begleitung der Eröffnungsfeier war eine große Herausforderung, allein schon aufgrund der Regieführung, die man als Berichterstatter am Mikrofon ja nicht zu verantworten hat, und des komplexen Programms. Bei Eröffnungsfeiern kann man fast nur verlieren als Reporter. Das geht Stunden, hat Längen – und man muss zu jeder Zeit das richtige Maß finden. Klar, manchmal hätten sich die beiden etwas zurücknehmen, die Bilder mehr für sich sprechen lassen können – aber das ist ein ganz schmaler Grat und letztlich Geschmackssache, denn es geht ja auch um Erklärungen und Einordnungen dessen, was man da gerade alles sieht. Das war bei dieser Eröffnungsfeier besonders anspruchsvoll. (Wiske-Foto: Küchenmeister)

sj: Während der Abschlussfeier dann lautete die Kritik, dass Nils Kaben und Anne Arend (ZDF-Korrespondentin in Paris; d. Red.) zu verhalten, zu emotionslos berichtet hätten.     

Wiske: Sehen Sie, das meine ich. Es ist unheimlich schwer, es allen recht zu machen. Eine rein fachliche Beurteilung ist kaum möglich. Zumal sich auch Sportreporter und Auslandskorrespondentin erst einmal einspielen müssen, was an sich schon keine leichte Aufgabe ist. (Schlussfeier-Foto: firo sportphoto/augenklick)

sj: Wo setzt Ihre Kritik dann an?

Wiske: Die große Stärke der beiden Sender, ihre Streaming-Angebote, verdeutlicht gleichzeitig einige Schwächen im linearen Programm. Dort findet die Hauptaufgabe des Sportjournalismus statt, nämlich das Filtern der wichtigsten Ereignisse aus der großen Masse an Entscheidungen. Hier muss ich mich als Medienkonsument darauf verlassen können, dass ich wirklich die wichtigsten Momente, Entwicklungen und Entscheidungen bei Olympia sehe und dass die Sequenzen gezeigt werden, die diesem Ereignis gerecht werden. Dieses Filtern, dieses Einordnen, diese Übersicht – genau das muss lineares Fernsehen bei solch einem Event leisten, sonst hat es keine Daseinsberechtigung mehr. Denn wenn das nicht funktioniert, kann ich als Konsument gleich den Stream wählen. Es gab diesmal Momente, anlässlich derer man sagen könnte: Da wurde Olympia nicht verstanden.

sj: Nämlich?

Wiske: Die im ZDF nahezu ununterbrochene Live-Übertragung des Viertelfinalspiels der DFB-Frauen gegen Kanada, das ja erst nach Verlängerung und Elfmeterschießen entschieden war. Zeitgleich fanden beim Schwimmen und im Zehnkampf wichtige Entscheidungen ebenfalls mit deutscher Beteiligung statt, und zudem ein 100-Meter-Finale der Frauen, also ein absolutes Highlight jeder Olympischen Sommerspiele. Dass dieses Welt-Ereignis, dieser Klassiker später nur als Konserve zu sehen war, aber nirgends live im öffentlichen Linear-Fernsehen, war völlig unverständlich. Auch die viel zu kurzen Einblendungen vom Schwimmen und Zehnkampf. Hier stimmte die Verhältnismäßigkeit nicht mehr, und bei aller Wertschätzung für die Fußballerinnen drängt sich schon die Frage auf, welche Begründung hinter dieser Entscheidung steckte. So ein komplettes Viertelfinale ist geradezu prädestiniert für den Stream, die wichtigsten Entscheidungen der Partie holt man dann ins lineare Fernsehen.

sj: Auf Eurosport teilte sich immerhin der Bildschirm, dort konnte man links Fußball sehen und rechts das Sprintfinale der Frauen.

Wiske: Aber dafür hätte man erst einmal ganz schnell herumzappen müssen. Und auf solch eine Argumentation kann sich das ZDF ja auch nicht zurückziehen, es darf ja nicht das Ziel sein, die Zuschauer an die Konkurrenz zu verlieren. Auch diesen gebetsmühlenartigen Hinweis auf den Stream verstehe ich in diesem Fall nicht. Dass zum entscheidenden Zeitpunkt dorthin geschaltet wird, wo bei Olympia die lauteste Musik spielt und die ganze Welt hinblickt, darauf konnte man sich in dem Moment als TV-Zuschauer nicht verlassen. Übrigens: Wer beim Adele-Konzert in München war, konnte die Entscheidung in einer der absoluten Königsdisziplinen der Leichtathletik uneingeschränkt live auf der LED-Leinwand mitverfolgen. Ein Weltstar unterbricht sein Konzert für ein anderes Welt-Ereignis. Ziemlich grotesk, aber dem Ereignis angemessen.

sj: Und das zweite Beispiel?

Wiske: Die Ausblendung 24 Sekunden vor Spielende des 3x3-Basketball-Halbfinalkrimis der deutschen Frauen gegen Kanada – zum Zwecke der Werbung beziehungsweise der anschließenden Nachrichtensendung. So etwas tut richtig weh.

sj: Es gab entsprechend beißende Kritik für das ZDF …

Wiske: … nachvollziehbar, denn hier fehlte jegliches Gespür. So nämlich schafft sich das lineare Fernsehen selbst ab. Zumal die Erklärung, man habe zur heute-Sendung schalten müssen, aufgrund der angespannten weltpolitischen Lage, auch zur ungeschickten Ausrede verkam. Denn, nochmals: Erst einmal gab's Werbung. Die heute-Sendung begann danach nicht mal pünktlich... Da wären 24 Sekunden 3x3 noch drin gewesen. (3x3-Basketball-Foto: GES-Sportfoto/augenklick)

sj: Im Livestream hätte man die Crunchtime miterleben können.

Wiske: Aber wie soll man denn derart schnell umswitchen? Da nützt auch kein Hinweis, 24 Sekunden vor Schluss eines solch dramatischen Spiels. Nicht jeder hat doch neben dem Fernseher noch den Laptop aufgeklappt stehen. Und es hat eben auch etwas mit Wertschätzung für diese Athletinnen zu tun. Bei einem Fußballspiel der DFB-Männer wäre das niemals passiert.

sj: In unserer Branche wird über zu wenig Distanz und Zurücknahme der Kommentatorinnen und Kommentatoren, zu viel Marktschreierei an manchen Stellen getuschelt. Ihre Meinung?

Wiske: Da schließe ich mich nicht an. Und ich denke auch nicht, dass das Publikum sich an solcher Kritik groß beteiligt. Im Gegenteil: Das Publikum erwartet Emotionen und Nähe – beides darf und muss auch sein. Wohlgemerkt: bei Olympischen Spielen, bei Welt- und Europameisterschaften, immer dann, wenn es für deutsche Teams und Aktive bei internationalen Events um Medaillen geht.

sj: Also droht kein Distanzverlust, wenn beispielsweise ein Carsten Sostmeier beim Reitsport, sagen wir mal, emotional etwas davongaloppiert?  

Wiske: Ich weiß, einige meinen, der Kollege sei manchmal etwas drüber. Aber ich sehe das anders. Für mich waren seine Live-Übertragungen in Paris wieder einmal ein Erlebnis. Ein gewisser Sportpatriotismus ist in Maßen übrigens völlig legitim, auch am TV-Mikrofon. Andere Nationen bleiben ja auch längst nicht immer ganz neutral bei Live-Übertragungen. Allerdings darf sich das nicht auf die sachlich-fachliche Einordnung auswirken. Natürlich kann man nicht alle und alles hochjubeln. Eine kritische Bewertung muss immer gewährleistet bleiben. Ich hatte aber den Eindruck, dass das, wenn auch vielleicht nicht immer, so doch meistens, in Paris ziemlich gut gelungen ist. (Foto Springreiten-Olympiasieger Christian Kukuk: firo sportphoto/augenklick)

sj: Dürfen Gefühle beim Moderieren und Kommentieren nicht nur zum Ausdruck kommen, sollten sie es sogar?

Wiske: Ich finde schon. Besonders authentisch ist so etwas immer dann, wenn ehemalige Aktive als Experten entsprechende Einblicke gewähren. Nicht nur fachliche, sondern auch mal in die Gefühlswelt vor, während oder nach einer Medaillenentscheidung. Aus dem eigenen Erlebten. Auch das bringt dem Zuschauer eine Sportart näher. Dies gelang ARD und ZDF, wie eingangs erwähnt, besonders gut in den Streaming-Angeboten.

sj: Der ARD-Kollege Hajo Seppelt erhielt diesmal gefühlt mehr Sendezeit für seine investigativen Themen, sei es Doping, die Gender-Diskussionen oder das IOC. Früher hieß es hinter vorgehaltener Hand oft, er sei eine Art Feigenblatt der ARD, eigentlich aber störe er die Interessen der übertragenden Sender, also auch des eigenen, bei den großen Events.

Wiske: Das gilt heute sicher nicht mehr. Seine Arbeit gehört zur gesamtjournalistischen Herangehensweise an ein Event wie Olympia längst dazu. Die Öffentlich-Rechtlichen haben fraglos den Auftrag, auch solche Recherchen an- und vorzustellen. Dem werden sie immer besser gerecht. Offenkundig war aber diesmal auch, dass das Publikum sich in unruhigen Zeiten wie diesen von der Berichterstattung aus Paris vor allem mal Ablenkung von all dem Negativen auf diesem Erdball versprochen hat. Quasi eine zweiwöchige Auszeit …

sj: … was die eingangs erwähnte Quote zusätzlich nach oben getrieben haben dürfte.

Wiske: Durchaus. Nicht nur das deutsche Publikum war sicherlich froh über die Spiele und die damit verbundene Pause von all den Brennpunkten und Problemen auf der Welt, wenn man nur die Fernbedienung zur Hand nahm. Und sind wir ehrlich: Paris und seine Kulisse allein haben ja auch Bilder für die Ewigkeit geliefert. Auch das hat diese Spiele zu einem erfolgreichen TV-Event gemacht. Ich jedenfalls habe mich sehr gerne darauf eingelassen.