sportjournalist: Herr Bertling, wie fällt Ihre Bilanz zur TV-Berichterstattung während der EM aus?
Dr. Christoph Bertling: Ich fand sie sehr ausgewogen. Insgesamt kann man sie als qualitativ hochwertig beschreiben – mit Ausnahme einiger Dellen.
sj: Was waren das für Dellen?
Bertling: Es gab von Experten und Moderatoren einige sehr flapsige Einlassungen, bei denen sehr unreflektiert über den massiven Alkoholkonsum gesprochen wurde. Das ist einigen Leuten unangenehm aufgefallen, und dazu hat es bei uns im Institut auch einige Anfragen gegeben. Grundsätzlich sind flapsige Passagen in den sehr langen Sendestrecken natürlich auch mal völlig in Ordnung. Wenn man sich das bei diesem konkreten Thema genauer anschaut, muss man aber feststellen: Das war unnötig und unsensibel. (Bertling-Foto: privat)
sj: Lässt sich das als Trend identifizieren, dass mehr auf Unterhaltung gesetzt wird?
Bertling: Ich finde die Komponente der Unterhaltung gar nicht schlimm. In der TV-Berichterstattung geht es immer auch um Unterhaltung, und auch Sport ist Unterhaltung. Es ist nur die Frage, um welche Art von Unterhaltung es sich handelt. Ich kann intelligent unterhalten, was oft der Fall war, oder aber abdriften und mit eigentlich sensiblen Themen unangemessen umgehen.
sj: Was war Ihrer Meinung nach besonders gut?
Bertling: Sehr sensibel ist man mit dem Wolfsgruß umgegangen. Da wurden Hintergründe erklärt, es wurde eingeordnet – das war einfach guter Journalismus im klassischen Sinne. Überhaupt wurden politische Themen aufgenommen in die Berichterstattung, auch im Vorfeld der EM. Zum Beispiel durch Philipp Awounous kontrovers diskutierte Doku "Einigkeit und Recht und Vielfalt" zum Thema Rassismus. Unabhängig davon, wie man zu der Doku steht: Sie hat zu einem guten Diskurs beigetragen.
sj: Welches Fazit lässt sich zur Themenwahl ziehen?
Bertling: Es war eine gute Mischung zwischen Unterhaltung und Information. Dabei gab es in der Berichterstattung nicht das eine Highlight. Vielmehr wurden die verschiedenen Perspektiven beleuchtet, die so ein Großevent mit sich bringt. Manches wurde sicherlich auch überstrapaziert, Stichwort: zweites Sommermärchen. Aber in Teilen war es eine sehr reflektierte Berichterstattung, in anderen Teilen eine sehr berauschende. Zum Beispiel, wenn es darum ging, im Livekommentar die Spannung und Stimmung zu transportieren. Insgesamt war es eine reife und gute Leistung.
sj: Auffällig waren die unterschiedlichen Konzepte bei den Öffentlich-Rechtlichen. Die ARD hat die gesamte Moderation stets aus den Stadien präsentiert, das ZDF dagegen aus dem Studio. Welches Konzept halten Sie für geeigneter?
Bertling: Auf der Hand liegt, dass man die Atmosphäre aus dem Stadion besser übermitteln kann als aus dem Studio. Dort geht das Publikum natürlich nicht so mit, zumal es in der Regel nicht eingebunden ist, sondern einfach nur zuschaut und zuhört. Im Stadion wurde, um Varianz reinzubringen, viel inszeniert, zum Beispiel durch Gespräche am Anstoßpunkt. Rein kommunikativ betrachtet bietet das Studio mehr Spielraum bei der Gestaltung und Umsetzung von Themen. Im Stadion ist man dabei deutlich eingeschränkt, weshalb es dort auch monoton werden kann. Deswegen war die konzeptionelle Aufteilung zwischen ARD und ZDF eine gute Mischung.
sj: Auch die immer höhere Zahl an Experten und Expertinnen fiel auf. Wie ist diese Zunahme zu bewerten?
Bertling: Diese Zunahme ist auf jeden Fall bemerkenswert, und es wäre spannend zu eruieren, worauf diese zurückzuführen ist. Welche Rolle spielen Kosten für Beiträge? Sind Experten und Expertinnen sogar günstiger, um lange Sendestrecken zu füllen? Unabhängig von finanziellen Aspekten weiß ich nicht, ob in dieser Hinsicht eine gute Mischung gefunden worden ist. Wenn man sehr viele Experten und Expertinnen hat und die Gespräche mit ihnen sehr lange Sendestrecken einnehmen, dann besteht die Gefahr, dass es ins Seichte und Unsensible abdriftet, wie am Beispiel Alkohol zu sehen war. Sie vermitteln sportlich natürlich Expertise und Perspektiven, aber die ausufernden Gesprächsstrecken mit ihnen bringen auch Längen in die Berichterstattung. Vielleicht wäre eine Konzentration der Sendezeit sinnvoll.
sj: Welche Rolle spielen die Expertinnen mittlerweile?
Bertling: Meiner Wahrnehmung nach eine gleichberechtigte. Ich glaube, dass wir da inzwischen angekommen sind, auch wenn ich natürlich weiß, dass es immer wieder leider auch sexistische und diskriminierende Shitstorms gibt. Für die große Masse aber sind Expertinnen erfreulicherweise zu einer Selbstverständlichkeit geworden und damit auch die Einsicht, dass Frauen und Männer Fußballspiele inhaltlich gleichermaßen gut vermitteln können. Es ist eine gesunde Normalität eingekehrt.
sj: Was auch mit den Einsatzgebieten zu tun haben könnte.
Bertling: Früher gab es vor allem Moderatorinnen und keine Kommentatorinnen. Das hat sich auch verändert, ebenso wie bei den Expertinnen. Frauen sind nun genauso in verschiedenen Kompetenzfeldern zu sehen wie Männer, wenngleich diese noch in der Mehrheit sind. Das muss aber nichts mit dem Geschlecht zu tun haben. Der Faktor Prominenz spielt da auch eine Rolle.
sj: Was lässt sich aus den hohen Einschaltquoten ableiten, die auch nach dem Aus der deutschen Mannschaft verzeichnet wurden?
Bertling: Das hatte wahrscheinlich auch mit dem Umstand einer Heim-EM zu tun und mit dem Wunsch, sich wieder fühlen zu wollen wie bei der WM 2006. Ein großes Fußballturnier wird ja umso mehr zum Event, wenn es im eigenen Land stattfindet. Dadurch geht der Eventcharakter auch dann nicht so stark verloren, wenn die deutsche Mannschaft ausscheidet.
Zur Person: Dr. Christoph Bertling ist Leiter des Instituts für Kommunikations- und Medienforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er verfügt über eine langjährige Berufserfahrung als (Sport-)Journalist.