Marcel Friederich (37) lebt seit seiner Geburt mit dem Möbius-Syndrom. Bei der sehr seltenen Behinderung sind Nerven nicht angelegt, weshalb in seinem Fall die linke Gesichtshälfte gelähmt ist. Er wurde an der Journalistenschule Axel Springer Akademie ausgebildet und war zuletzt bei der Deutschen Fußbvall Liga (DFL) Leiter der externen Kommunikation. Am 30. September hat der Vorverkauf für sein Buch begonnen, weitere Informationen sind auf seiner Internetseite www.mutmacher-menschen.de zu finden. Friederich lebt mit seiner Partnerin in Mainz.
sportjournalist: Herr Friederich, auf Ihrer Website schreiben Sie: "Mein Anderssein – meine frühere Schwäche ist heute meine Stärke." Wie meinen Sie das?
Marcel Friederich: Jahrzehntelang dachte ich, dass ich komisch aussehe und deswegen weniger wert bin. Ich hatte immer das Gefühl, ich müsste mehr leisten, um ähnlich viel wert zu sein wie andere. Dadurch habe ich sehr viel kompensiert, sehr viel gearbeitet. Da war der Sportjournalismus für mich eine sehr wichtige Kraftquelle. Erst mit Anfang 30 habe ich realisiert, dass ich vieles erreicht habe, weil ich ablenken wollte von meiner körperlichen Behinderung.
sj: Wie kam es zu dem Wandel Ihrer Selbstwahrnehmung?
Friederich: Als ich Anfang 2023 mit 35 Jahren das erste
Mal öffentlich darüber gesprochen habe, wie sich das Leben mit einer Behinderung darstellt, habe ich gemerkt, wie viele Menschen es ermutigt, wenn ich über mein Anderssein und meine vermeintliche Schwäche rede. Da habe ich verstanden, wie kraftvoll und hilfreich das Thema für andere ist. (Foto Marcel Friederich: Thorsten Kahle)
sj: Konkreter Auslöser war ein Podcast, in dem Sie erstmals öffentlich über Ihr Leben mit der Behinderung gesprochen haben. Was hat dieser Podcast genau bewirkt bei Ihnen?
Friederich: Ich habe einen Social-Media-Post zu diesem Podcast morgens im Zug auf dem Weg zur Arbeit abgesetzt. Das war am 3. Januar 2023, ein Dienstag. Da habe ich gemerkt, dass sich etwas fundamental ändert. Denn das Handy stand nicht mehr still. Abends saß ich zu Hause auf der Couch, habe mir die vielen tollen und bewegenden Reaktionen auf meinen Post durchgelesen und mich gefragt: Was ist denn heute Verrücktes passiert, was hast du ausgelöst? Da habe ich erst verstanden, wie viel Kraft in diesem Thema steckt.
sj: Eine Lawine kam ins Rollen.
Friederich: Ich musste erstmal überlegen: Was mache ich mit dieser Lawine? Die passte ja gar nicht zu meinem bisherigen Selbstbild meiner Tätigkeiten im Journalismus, in der PR, als Leiter der externen Unternehmenskommunikation rund um die Bundesliga bei der Deutschen Fußball Liga. Da musste ich mir die Frage stellen: Wie bringe ich das neue, andere Thema jetzt unter? Dazu habe ich dann das erste halbe Jahr nur einen Post pro Monat abgesetzt. Doch die Lawine rollte weiter bis zu einem zweiten Schlüsselmoment, als der SWR einen Beitrag über mich auf Instagram veröffentlicht hat und daraufhin ein Verlag anfragte, ob ich dazu ein Buch schreiben wolle. Damit war die nächste Stufe in meinem Denkprozess erreicht, was man mit dem Thema noch alles bewirken könnte.
sj: Sie sind gelernter Journalist, waren bei der Sport Bild und als Chefredakteur des Basketball-Magazins BIG tätig, haben in den Medienabteilungen von Schalke 04 und RB Leipzig gearbeitet. Welche Schwierigkeiten haben Sie im Beruf erlebt aufgrund Ihrer Behinderung?
Friederich: Ich habe das jahrelang nicht wirklich realisiert. Ich dachte lange, es sei für mich rosarot, weil ich tolle Jobs ausführen durfte, und für diese Erfahrungen bin ich auch sehr dankbar. Im Nachhinein betrachtet erinnere ich mich schon an Situationen, in denen ich gewisse Jobs nicht bekommen habe. Erst kürzlich hat mir ein guter Bekannter geschildert, dass mich eine Institution als Kommunikationsleiter haben wollte, ehe dort ein Riegel vorgeschoben wurde. Und zwar mit der Begründung: Der ist zwar fachlich top, aber was hätte das für eine Außenwirkung, jemanden mit einem so komischen Gesicht da vorne hinzustellen? Da habe ich natürlich geschluckt. Aber das ist für mich auch ein Extraantrieb, weil mich das Thema Vorurteile schon immer begleitet. Ich möchte diese verstärkt abbauen durch positiv konnotierte Aufklärung.
sj: Wie kam es dann dazu, dass Sie bei der DFL Ende 2024 aufgehört und das crossmediale Mutmacher-Projekt ins Leben gerufen haben?
Friederich: Der Anschub war das Buch und der Gedanke,
das Thema breiter aufzuziehen mit Menschen, die sehr unterschiedliche Perspektiven beisteuern können, nicht nur körperliche Behinderungen, sondern auch nicht sichtbare Herausforderungen. Mir war schnell klar, dass ein Buch nicht ausreicht und man das Thema für mehr Reichweite crossmedial umsetzen muss. Und das kann man nicht nebenbei machen, sondern nur hauptberuflich als Selbstständiger.
sj: Wie setzen Sie das Mutmacher-Projekt konkret um?
Friederich: In Begleitung einer Videografin habe ich von Februar bis Mai elf Personen im Alter von 17 bis 90 Jahren mit sehr diversen Themen getroffen. Das reicht vom Nationalmannschafts-Kapitän im Rollstuhl-Basketball, Thomas Böhme, über Teresa Enke und Sunniva Ferri, die wegen einer Autoimmunerkrankung mit 18 Jahren ihre Haare verlor, bis hin zu Thomas Hitzlsperger. Es geht also auch um Themen wie Depressionen, Homosexualität, chronische Erkrankungen, nicht sichtbare Behinderungen, Fehlgeburten, Suizid-Erfahrungen in der Familie. All diese Mutmacher-Menschen porträtiere ich, und sie haben eines gemeinsam: Sie gehen ihre Herausforderung positiv an und meistern sie dadurch bestmöglich. Damit machen sie vielen Menschen Mut. Das zeigt sich auch daran, dass meine Postings dazu bei den Aufrufzahlen längst die Millionenmarke überschritten haben. Die Website dazu ist gerade online gegangen, am 6. November erscheint mein Buch.
sj: Was haben Sie beispielsweise mit Thomas Hitzlsperger herausgearbeitet?
Friederich: Wir haben den Unterschied, dass mein Thema sichtbar ist und seines nicht. Ich kann meine Behinderung nicht verheimlichen. Nicht sichtbare Themen, wie Thomas Hitzlspergers Homosexualität, lassen sich viel leichter verstecken. Aber das führt zu der Gefahr, dass bei diesen Menschen die unsichtbaren Themen innerlich implodieren können. Deswegen findet Thomas Hitzlsperger öffentliche Coming-outs nach wie vor eminent wichtig, weil andere homosexuelle Menschen von jedem Coming-out bestärkt werden, dass sie nicht alleine sind.
sj: Welche konkreten Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Mutmacher-Projekt?
Friederich: Das eine Ziel ist, Menschen zu stärken, zum eigenen Anderssein zu stehen, sich zu akzeptieren. Das andere Ziel ist, die Gesellschaft zu stärken, Vorurteile und Diskriminierungen abzubauen sowie den Respekt in unserem Zusammenleben zu fördern.
sj: Welche Wirkung erhoffen Sie sich im Sportjournalismus?
Friederich: Über den Behindertensport wird beispielsweise fast nur während der Paralympics berichtet, zu anderen Zeiten gerät er zu oft aus dem Blick. Ich möchte das Thema Vielfalt und Inklusion in der öffentlichen Wahrnehmung verstetigen und forcieren, dass es regelmäßig stattfindet. Meine journalistischen Fertigkeiten vereine ich dabei mit meiner Lebensgeschichte.
sj: Inwiefern unterscheidet sich Ihr Buch "Mutmacher-Menschen" von den crossmedialen Inhalten?
Friederich: Im Buch geht es um meinen Lebensweg und die Lebenswege der elf Menschen. Diese beschreiben, was ihr Lebensthema ist und wie sie es geschafft haben, damit mutig umzugehen. Hinzu kommt ein Kapitel, in dem es darum geht, was jede oder jeder Einzelne für seine individuellen Herausforderungen mitnehmen kann. Das Buch soll eine Stütze sein, selbstbewusster, mutiger und positiver durchs Leben zu gehen.
sj: Wie trägt sich das Mutmacher-Projekt finanziell?
Friederich: Zur Kostendeckung des Buchs und der Mutmacher-Website konnte ich rund 15 Partner gewinnen. Dies ist nötig, weil ich unter anderem mit einer Videografin und Grafikerin zusammenarbeite. Im nächsten Schritt geht es für mich darum, das Angebot an Mutmacher-Themen dauerhaft zu etablieren und auch zu monetarisieren. Wenn dies gelingt, kann ich mir vorstellen, noch lange in diesem Bereich engagiert zu sein – das ist mein Angebot an die Gesellschaft.
sj: Haben Sie bereits Pläne für die Zeit nach dem Erscheinen Ihres Buches?
Friederich: Ich bin schon jetzt regelmäßig als Speaker und Referent bei Unternehmen, auf Messen und in Schulen, um über das Thema Mut zum Anderssein zu sprechen. Das werde ich intensiv weiterführen. Gleichzeitig arbeite ich Konzepte aus, wie die Themen Vielfalt, Inklusion und Vorurteile abbauen an Schulen verstetigt werden können. Denn das ist der allerwichtigste Punkt, weil wir dort an der Wurzel der Gesellschaft sind. Dort können wir besonders nachhaltig wirken, und das liegt mir sehr am Herzen.