sportjournalist: Herr Krauß, Sie haben mit "Dabeisein wäre alles" ein Buch über die lange Geschichte der Ausgrenzung im Sport geschrieben und haben die Paralympics mit wachem Blick verfolgt. Wie haben Sie die Berichterstattung erlebt?
Martin Krauß: Es ist zunächst mal löblich, dass überhaupt berichtet wurde. Und zwar in recht großem Umfang und durchaus kompetent. Auffallend fand ich aber, dass über die Paralympics kaum einmal als Weltklasse-Sportereignis berichtet wurde, sondern fast nur mit Blick auf die Deutschen. Die konkrete Leistung wird nur unzureichend benannt und vermittelt. Das liegt aber nicht an den Medien, sondern an der Erwartungshaltung des Publikums, das wissen will, wie "wir" abschneiden.
sj: Und das ist bei den Olympischen Spielen der Nicht-Behinderten anders?
Krauß: Das ist anders, wenn der Sport so populär ist wie der Fußball. Da haben die Leute schon mitbekommen, dass in Brasilien oder bei Real Madrid ganz guter Fußball gespielt wird. Aber auch an der Berichterstattung aus Paris sieht man, dass es durchaus erfreuliche Entwicklungen gibt. Es wäre ja unsinnig zu behaupten, es wäre nie irgendetwas besser geworden. Wenn man sich Olympia 1896 anschaut, fällt sofort auf, wer alles nicht dabei war: Frauen, Arbeiter, behinderte Menschen, Sportler aus Asien, Schwarze. 128 Jahre später waren jetzt in Paris etwa gleich viele Frauen und Männer dabei.
sj: Dennoch sagen Sie, dass der Weg zu einem demokratischen und inklusiven Sport noch lang ist.
Krauß: Der offizielle Sport ist immer noch alles andere als demokratisch verfasst. Die großen Verbände wie das IOC oder die FIFA sind in ihrer Struktur vollkommen undemokratisch, jedweder Kontrolle entzogen. Die unbestreitbaren Fortschritte sind ja nicht von diesen Verbänden initiiert worden, die wurden ihnen abgerungen. Beispielsweise von Behindertengruppen, die für mehr Sichtbarkeit gekämpft haben. (Fotos Krauß und Buchcover: Penguin Verlag)
sj: Nicht das einzige Beispiel dafür, dass Fortschritt von der Basis erkämpft wird.
Krauß: In der Geschichte des Sports lief es eigentlich immer so. Auch die Paralympics sind ja keine Erfindung des IOC, sondern aus der Kriegsversehrtenbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Dass es Frauenfußball unter dem Dach der FIFA gibt, liegt daran, dass die Frauen sich vorher selbst organisiert haben.
sj: Sie werfen einige Fragen auf, über die wahrscheinlich noch nicht jeder nachgedacht hat. Beispielsweise die, welchen Sinn eine Geschlechtertrennung beim Schach oder Schießsport hat.
Krauß: Im Schießsport gab es lange keine Geschlechtertrennung, aber als eine Frau das erste Mal Olympiasiegerin wurde, hat man sie eingeführt. Natürlich sind Frauen bei manchen Sportarten weniger leistungsfähig. Mir ging es aber darum zu zeigen, dass das oft auch historisch bedingt ist. Noch heute muss ja ein talentiertes Mädchen, das bis zur C-Jugend mit den Jungs kickt, danach plötzlich in der etwas weniger guten Trainingsgruppe spielen. Auch so entstehen Leistungsunterschiede, auf die dann verwiesen wird, um die Trennung zu legitimieren.
sj: Zusammen mit Lorenz Peiffer erforschen Sie derzeit die NS-Verstrickungen unseres Berufsverbandes. Zum 100-Jährigen im April 2027 soll die Dokumentation erscheinen.
Krauß: Das ist auch ein Punkt, der sich zum Positiven verändert hat. Die Firmen und Verbände öffnen sich. Man kann sich nicht mehr leisten, die Zeit zwischen 1933 und 1945 völlig auszublenden. Auch beim VDS kam die Initiative aus dem Präsidium, durch André Keil und Erich Laaser.
sj: Gab es auch Widerstände im Verband?
Krauß: Nicht, dass ich wüsste. Ich kann mir aber vorstellen, dass es Diskussionen gibt, wenn wir die Ergebnisse vorlegen, weil viele Leute, die den Nachkriegs-Sportjournalismus geprägt haben und hoch geehrt wurden, NS-belastet sind, was nie thematisiert wurde. Auch an die ermordeten oder hinausgeworfenen Kollegen, ob sie nun aus dem Arbeitersport kamen oder Juden waren, wird in der Regel nicht erinnert – zumindest nicht im Lokaljournalismus.
sj: Das klingt, als hätten Sie schon in der Anfangsphase viele Erkenntnisse zusammengetragen…
Krauß: Die Quellenlage ist gar nicht schlecht. Zudem haben wir die Arbeit auf viele Schultern verteilt, es wird also einen Sammelband geben. Ich hoffe jetzt mal, dass mir der Optimismus nicht um die Ohren fliegt. Dass man am Schluss trotzdem immer in Hektik gerät, ist ja normal.
sj: Zumal es auch bei diesem Projekt Widrigkeiten gibt.
Krauß: Ein kleines Problem ist tatsächlich, dass der VDS und seine Untergliederungen kein gutes Verbandsarchiv haben, einiges ist hier verlorengegangen. Viele Regionalverbände, ich denke da an München und Frankfurt, sind sehr weit. Bei anderen wäre es toll, wenn sie mal nachschauen könnten, ob beim Ehrenvorsitzenden im Keller noch Kartons mit Mitgliederkarten oder Briefwechseln lagern. Deren Wert können die Nachfahren nach dessen Ableben vielleicht nicht mehr einschätzen.
Martin Krauß
“Dabeisein wäre alles – Eine neue Geschichte des Sports“
Bertelsmann Verlag
ISBN 978-3570105474
28 Euro