Interview mit NDR-Teamleiter Matthias Cammann

„Ganz oben stehen Relevanz und Vielfalt“

02.05.2023

Matthias Cammann war beim NDR Volontär, Autor und Moderator. Inzwischen ist er dort zusammen mit Tim Tonder Teamleiter "Recherche + Hintergrund" und kümmert sich in dieser Funktion unter anderem um die Themenauswahl für die "Sportclub Story". Außerdem kommentiert er für die ARD-„Sportschau“ Fußballspiele. Timon Saatmann sprach mit Cammann anlässlich der Vergabe der VDS-Preise in den Berufswettbewerben über seine abermals prämierte Redaktion.

 

sportjournalist: Matthias Cammann, "Sportclub Story" hat beim VDS-Fernsehpreis 2022 die Plätze zwei und drei geholt, der NDR hat damit in den vergangenen sieben Jahren 13 von 21 möglichen Podiumsplätzen abgeräumt. Wie werden diese Erfolge bei Ihnen wahrgenommen?

Matthias Cammann: Die Auszeichnungen sind natürlich in der Redaktion sehr willkommen und eine gute Motivation für uns. Sie werden aber auch außerhalb der Redaktion bis hinauf in die NDR-Leitung wahrgenommen, so dass wir mit "Sportclub Story" innerhalb des NDR ein sehr gutes Standing haben. Das finden wir natürlich großartig und ist in Zeiten immer knapper werdender Budgets ein gutes Argument, weitermachen zu dürfen. (Cammann-Foto: privat).

sj: Für die Fernsehpreis-Jury ist die Themenfindung ein ganz wichtiger Punkt bei der Bewertung der Beiträge. Pro Jahr werden bei uns rund drei Dutzend Beiträge eingereicht – bei Ihren Beiträgen sind immer Themen dabei, die man noch nicht auf dem Schirm hatte, oder die sonst niemand angepackt hat. Wie finden Sie Ihre Themen?

Cammann: Wir planen mit etwa 30 Sendungen pro Jahr und haben den Prozess dafür in den vergangenen Jahren verändert – auch dank Maren Höfle, die neue Wege für die Themenfindung aus einer anderen Redaktion mitgebracht hat. Wir machen drei- oder viermal im Jahr einen Pitch. Bei dem Pitch präsentieren die eigenen Mitarbeiter ihre Ideen, die Tür ist aber auch für externe Autoren oder Produktionsfirmen offen. Vor Ostern war unser erster Pitch in diesem Jahr, es lagen 20 Vorschläge auf dem Tisch. Dann hat jede Kollegin und jeder Kollege die Chance, die eigene Idee zu verteidigen. Manchmal werden ja auch unrealistische Luftschlösser gebaut. Am Ende stimmen wir – ähnlich wie Sie beim Fernsehpreis – ab und nach fünf Stunden Pitch haben zehn Themen den Zuschlag bekommen.

sj: Mit welchem Vorlauf planen Sie?

Cammann: Im jetzigen Pitch haben wir Themen besprochen, die im zweiten Halbjahr dieses Jahres oder im ersten Halbjahr 2024 gesendet werden sollen. Aber der Pitch ist nicht das einzige Kriterium für Tim Tonder und mich, die wir gemeinsam das Team Hintergrund und Recherche leiten. Manchmal wollen wir natürlich auch aktuelle Themen umsetzen. Nur ein Beispiel: Als der Ukraine-Krieg begonnen hat, haben wir sehr schnell
beschlossen, einen Film über die Klitschko-Brüder zu machen, den Sven Kaulbars dann innerhalb weniger Wochen umgesetzt hat.

sj: Aktuelles Thema war auch Dirk Hordorff, der nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung von seinem Amt als Vize-Präsident des Deutschen Tennis Bundes zurückgetreten ist. Ein ehemaliger und ein aktueller Profi hatten ihm Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt vorgeworfen. Wie lief hier die Arbeit?

Cammann: Die gemeinsamen Recherchen haben etwa ein Jahr gedauert. Das Thema war mal als 30-Minüter geplant, aber dann hat die Aktualität uns überholt. Das kann bei investigativen Geschichten passieren, die dann eher zum aktuellen Thema werden. In diesem Fall haben wir sieben Minuten für die "Sportschau" und 1:40 für die "Tagesschau" zugeliefert. Wichtig ist für uns, dass wir hier sauber und fair arbeiten und zum Beispiel Fragenkataloge mit realistischen Deadlines für Reaktionen verschicken. (Foto: NDR).

sj: Im Wettbewerb für das Jahr 2022 ist der Film "Zyklus-Faktor" von Ina Kast auf Platz 3 gelandet. Es geht darum, wie der Zyklus Sportlerinnen und ihre Leistung beeinflusst und wie wenig erforscht dieses Thema ist. Musste Ina Kast hart für dieses Thema kämpfen?

Cammann: Überhaupt nicht. Da waren wir uns von Anfang an alle einig. Das war ein Vorschlag von Hendrik Maaßen, also von einem Mann. Das Thema ist eigentlich inzwischen präsent, es hat sich aber noch niemand eingehend damit beschäftigt. Am Anfang stand die Frage, ob es eine Frau gibt, die erzählt, wie es wirklich ist. Die hatten wir, und Ina hat das Thema dann als Autorin umgesetzt.

sj: Hendrik Maaßen ist auch wieder unter den Preisträgern gewesen mit seinem Film "Schmutzige Spiele" über das IOC und dessen Verhältnis zu China.

Cammann: Das war in der Umsetzung unheimlich schwierig, Hendrik hat eine beeindruckende Geduld bewiesen, gemeinsam mit einer Kollegin der SZ in China, die mit uns kooperiert hat. Wir haben uns ständig gefragt, ob wir das riskieren können, sie zum Beispiel in eine Gegend zu schicken, in der Zwangsarbeiter leben. Wir hätten das Thema auch gerne noch weiter gefasst, Dreharbeiten wurden uns aber an einigen Orten verwehrt. Der Film hat am Ende für mich erstaunlich hohe Zugriffszahlen gehabt. Nicht nur im Fernsehen, auch auf unserem YouTube-Kanal.

sj: Hintergründige Magazine gibt es im NDR seit etwa 30 Jahren, begonnen hat es mit dem "Sport 3 Magazin". Wie war der Weg zur heutigen "Sportclub Story"?

Cammann: Nach dem "Sport 3 Magazin" hieß das Format "Schlagzeile Sport", in dem wir die Hintergründe zu einer Schlagzeile beleuchtet haben. Später gab es "Sportclub Stars". Da haben wir nur Porträts produziert, das reichte uns irgendwann nicht mehr. Hinzu kamen "Sportclub Reportage" und "Sportclub History", mit der ersten Staffel waren wir vor zwölf Jahren sogar für den Grimme-Preis nominiert. Dann haben wir beschlossen, dass alle Formate unter einem Titel laufen sollten. So entstand die "Sportclub Story". (Cammann-Foto: privat).

sj: Welche Kriterien sind für Sie bei der Auswahl der Themen entscheidend?

Cammann: Ganz oben stehen Relevanz und Vielfalt. Wir wollen nicht nur eine Art von Filmen, und wir wollen nicht nur im Fußball oder im Spitzensport unterwegs sein. Uns sind auch der paralympische Sport oder demnächst die Special Olympics wichtig. Wir möchten eine Mischung aus Hochglanz-Sport und Alltag – auch wenn wir uns damit manchmal sehenden Auges von einer höheren Quote verabschieden. Würden wir ausschließlich Fußball-Themen anbieten, hätten wir sicher mehr Zuschauer und Nutzer, so schade das ist.

sj: Ist Ihnen die Quote etwa egal?

Cammann: Der Marktanteil im linearen TV steht nicht mehr ganz so stark im Fokus. Wir wollen jüngere Zielgruppen erreichen. Dafür müssen wir akzeptieren, dass bei diesen Zuschauern das lineare Fernsehen nicht so eine große Bedeutung hat. 20-, 30-Jährige gucken kaum noch linear. Viele können mit dem NDR nicht viel anfangen, gucken aber trotzdem unsere Dokus. Nur eben auf anderen Plattformen. Wir haben zum Beispiel eine Doku über Surfen auf der Nordsee im Winter gemacht, "Kalte Wellen" hieß der Film. Die Quote war linear eher unterdurchschnittlich, auf YouTube dagegen hat das sehr gut funktioniert. Aber danach sagen die jungen Leute leider: "Das habe ich auf YouTube gesehen" – und nicht: "Das habe ich im NDR gesehen".

sj: Und wie sind die Reaktionen im Netz, wo der Zuschauer ja direkt seinen Kommentar abgeben kann?

Cammann: Die Fußballfans mögen es nicht, wenn man ihren Verein in schlechtem Licht dastehen lässt, zum Beispiel im Fall des HSV-Spielers Vuskovic. Das IOC aber zum Beispiel verteidigt niemand. Bei aktueller Berichterstattung sind die Kommentare eher negativ. Bei Dokumentationen dagegen bekommen wir sehr gutes Feedback, sehr viel Zuspruch. Und auch bei den weniger sportaffinen Kollegen in anderen Abteilungen oder Redaktionen kommen die Dokus gut an.

Mit Matthias Cammann sprach Timon Saatmann. Er leitet seit sieben Jahren die Jury für die Vergabe des VDS-Fernsehpreises. Saatmann ist Inhaber der Content-Agentur TeamOn GmbH in Berlin und als Journalist, Videoproduzent und Berater tätig. Hier geht es zu seiner Internetseite.