Martin Schäuble ist Journalist und Buchautor. In seinem Jugend-Roman "Warum du schweigst" thematisiert er am Beispiel der Fußballerin Lena, deren Trainer erst übergriffig und schließlich gewalttätig wird, sexuellen Missbrauch im Breitensport. Die Recherchen und Hintergrundgespräche, auf die sich die Handlung stützt, nennt Schäuble rückblickend "schockierend". Ein Gespräch über ein System, das Veränderung verschleppt – und dadurch Täter schützt.
sportjournalist: Herr Schäuble, wie ist die Idee zu diesem Roman entstanden?
Martin Schäuble: Ich habe die Anfrage des Verlags erst abgelehnt, weil ich dachte, dass ich keine Berührungspunkte mit dem Thema hätte. Aber dann bin ich nach Hause gegangen, wo ich Kinder habe, die alle in Sportvereinen sind, und habe gemerkt, wie allgegenwärtig es ist – und dass es alle betrifft.
sj: Sie haben die Schilderungen von Betroffenen in die Romanhandlung eingebunden. Andere Perspektiven sind erfunden. Warum dieses Misch-Genre?
Schäuble: Ich versuche, möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben. Sie dokumentarisch wiederzugeben, war aber nicht möglich, weil ich auch mit Betroffenen gesprochen habe, die die Täter entweder nicht oder erst kürzlich angezeigt hatten, sich also in Prozessen befanden. Ich musste aus rechtlichen Gründen fiktionalisieren. (Schäuble-Foto: Fischer Verlag/Fadi Arouri)
sj: Welche Passagen sind real, welche erfunden?
Schäuble: Fast alles, was der fiktiven Hauptfigur Lena passiert, ist Betroffenen genau so widerfahren. Die Perspektive ihres Freundes Tim ist hingegen fiktiv. Sie war mir wichtig, weil sie zeigt, wie widersprüchlich das Verhalten Betroffener wirken kann und wie weitreichend sich die Zerstörung durch sexualisierte Gewalt auf das Leben auswirkt.
sj: Der Roman endet für die Hauptfigur mit einer erfolgreichen Anzeige und viel privater und professioneller Unterstützung ...
Schäuble: ...was leider äußerst selten passiert. Das ist ein Ein-Prozent-Ende. Ich wollte zeigen, wie es im besten Fall ausgehen kann, wenn etwas Schlimmes passiert ist, aber alle gut reagieren: dass Betroffene Hilfe suchen und finden, und dass die Möglichkeit besteht, Erlebtes zu verarbeiten und Täter zu stellen. In der Realität verlassen Betroffene oft den Verein. Andere erdulden den Missbrauch, weil ihnen der Sport wichtiger ist. Viele erleben sexualisierte Gewalt deshalb nicht nur einmal.
sj: Wenig schmeichelhaft ist die Reaktion des dargestellten Vereins, der den gewalttätigen Trainer schützt.
Schäuble: Das wiederum klingt wie ein Relikt aus den 1970er-Jahren, ist aber Alltag. Vorstände deckeln und vertuschen, um den guten Ruf zu wahren. Die Trainer werden entweder gehalten oder weggelobt – so muss der Verein nicht öffentlich eingestehen, dass eine Grenze überschritten wurde. Vereins-Hopping von Tätern ist eher die Regel als die Ausnahme, und beim nächsten Verein passiert dann dasselbe. Ich habe mit Vereinen und Verbänden gesprochen, wo mir immer wieder versichert wurde, das sich jetzt alles ändere. Aber wirklich sichtbar in den Turnhallen und auf den Sportplätzen ist von den Schutzkonzepten bisher wenig. (Buchcover: Fischer Verlag)
sj: Woher kommt die Scheu, Übergriffe transparent aufzuarbeiten?
Schäuble: Am Breitensport hängen Lebensleistungen. Viele Vorstände sind seit Jahrzehnten ehrenamtlich tätig und fürchten, ihr Verein könne dadurch Schaden nehmen, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Wir müssen die Vorstellung überwinden, dass Missbrauch um Mitternacht in der dunklen Kabine stattfindet. Er passiert meist, während am helllichten Tag viele Leute gleichzeitig wegsehen. Viele Eltern sind zudem froh, wenn das Kind einen Sportverein findet. Das birgt die Gefahr, dass aus Dankbarkeit über viel hinweggesehen wird. Das wissen auch potentzelle Täter.
sj: In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist das Bewusstsein für sexualisierte Gewalt gestiegen. Hat das etwas verändert?
Schäuble: Die ersten Gespräche habe ich mit Betroffenen geführt, bei denen die Taten mehrere Jahrzehnte zurücklagen. Ich habe mir Täter-Strategien notiert, weil ich von einer Entwicklung ausging. Als ich später Gespräche mit aktuell Betroffenen geführt habe, hat sich allerdings gezeigt: Von der Annäherung über die Anbahnung bis zur Verschleierung der Taten läuft alles identisch ab. Dieselben Methoden funktionieren also seit 30 Jahren. Das zeigt ein Versagen von Sportvereinen und -verbänden in diesem Bereich.
sj: Ist die oft programmatische Lockerheit im Sportverein problematisch?
Schäuble: Zumindest Sätze wie "Verein ist Familie" sind es und deutliche Warnzeichen. In Familien hat körperliche Nähe einen festen Platz, in Vereinen nicht. Weder Kontaktsport noch freundschaftliches Miteinander bedeuten, sich überall berühren lassen oder grenzüberschreitende Sprüche hinnehmen zu müssen. Deshalb wären Plakate in Sportstätten mit Aufklärung und Telefonnummern von Beratungsstellen dringend nötig. Täter nutzen aus, dass bei Betroffenen häufig eine große Unsicherheit besteht, wo sexuelle Übergriffe beginnen.
sj: Wo beginnen sie?
Schäuble: Früh. Eine Vergewaltigung ist nur die extremste Form. Aber es beginnt mit sexistischer Sprache oder dem aufgedrängten Aufbauen körperlicher Nähe. Wenn Kameras und Mikrofone dabei sind, wird im Sport mittlerweile stärker auf die Atmosphäre geachtet, die bestimmte Ausdrucksweisen schaffen. Aber an der Basis und am Spielfeldrand habe ich Erwachsene vor ihren Kindern Dinge sagen hören, die mir als Zuhörer peinlich waren und Betroffene davon abhalten können, sich jemandem anzuvertrauen. Da kommt dann gerne der Vorwurf, man müsse heutzutage aufpassen, was man sage. Darauf möchte ich erwidern: Stimmt. Und das ich richtig so. Das wäre auch früher schon besser gewesen, aber jetzt thematisieren wir es endlich.
Hinweis: Für Betroffene von Diskriminierung oder (sexualisierter) Gewalt im Arbeitsumfeld hat der VDS eine unabhängige Anlaufstelle bei Kerstin von Kalckreuth unter antidiskrinalist.de eingerichtet. Weitere Informationen finden Sie minierung@sportjourhier.