„Gewinn an Lebensqualität“

Umsteiger Martin van de Flierdt

03.02.2023

Gemeinderat statt Champions League. Martin van de Flierdt hat sich sehr bewusst für den Umstieg entschieden. Der langjährige Sport1-Redakteur kümmert sich nun mit um die Medienarbeit der Gemeinde Unterföhring bei München. Im sj-Interview der Reihe „Einsteiger, Aussteiger, Umsteiger“ erklärt er, warum sich der Wechsel für ihn gelohnt hat.

 

Martin van de Flierdt, Jahrgang 1974, studierte Sportwissenschaften mit Schwerpunkt Medien und Kommunikation an der Deutschen Sporthochschule Köln. Nach seinem Volontariat bei Sport1 war er freiberuflich tätig, ehe er fest zum Medienunternehmen zurückkehrte. Im April 2022 wechselte das Mitglied des VMS in die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde Unterföhring bei München.

sportjournalist: Herr van de Flierdt, Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen. Oberbayern gilt bei sogenannten Zugereisten als einigermaßen kritisch.

Martin van de Flierdt: Ich hatte auch wirklich Bedenken, ob das womöglich ein Ausschlusskriterium sein könnte, wenn man sich als Preuße bewirbt. Aber da sind alle sehr entspannt. Der Unterschied in anderen Bereichen ist größer. Der Bürgermeister war während der Wildmoser-Ära mal Fußball-Abteilungsleiter bei 1860 München, aber ansonsten ist Spitzensport meinem direkten Umfeld hier zum Beispiel herzlich egal.

sj: Der FC Bayern hat 25-mal so viele Mitglieder wie Unterföhring Einwohner. Was hat Sie an der neuen Aufgabe interessiert?

Van de Flierdt: Genau das. Eine Gemeinde mit nur 11.000 Einwohnern, die jährlich 70 Millionen an Gewerbesteuer-Einnahmen hat, ist schon strukturell spannend. Zu meinen Aufgaben gehört auch das Erstellen längerer Publikationen. Ich lese mich zum Beispiel in die Ortshistorie ein, die durch die Ansiedlung der vielen Medienunternehmen eine massive Wende erlebt hat (Foto: Gemeinde Unterföhring).

sj: Ist der Wechsel von der großen Bühne des Weltfußballs auf die Kommunal-Ebene schwierig?

Van de Flierdt: Ich muss mich eher in den offiziellen Verwaltungsjargon einarbeiten. Ich komme ursprünglich aus dem Lokaljournalismus, das ist eigentlich back to the roots. Das Arbeiten selbst ist im Endeffekt dasselbe: Ich schreibe Infos auf, die ich mir von Ansprechpartnern hole. Das war beim FC Bayern so, und ist hier so. Mit dem Unterschied, dass ich die Infos jetzt auch kriege.

sj: Fehlt Ihnen die Unabhängigkeit, die in der Öffentlichkeitsarbeit verloren geht?

Van de Flierdt: Ach, ich habe auch schon in der Presseabteilung von Werder Bremen gearbeitet. Davon abgesehen, hatte man speziell in den vergangenen beiden Jahren sowieso kaum Gelegenheiten für investigative Recherche, mir geht da nichts ab.

sj: Da Sie es ansprechen. Es gibt etliche Kolleginnen und Kollegen, die dem Sportjournalismus während der Pandemie den Rücken gekehrt haben. Sehen Sie da einen Zusammenhang?

Van de Flierdt: Ich glaube schon, dass Corona eine Katalysator-Wirkung hat. In den beiden Covid-Jahren haben sich für viele die Prioritäten komplett verschoben.

sj: Wie war das bei Ihnen?

Van de Flierdt: Mir ist noch deutlicher geworden, wie wichtig mir die Familie ist – und wie wenig relevant im Vergleich dazu der Spitzensport. Dazu kamen verschärfte Arbeitsbedingungen. Ich war im Kernteam, das nicht von Kurzarbeit betroffen war. Aber dadurch habe ich eben auch durchgearbeitet, denn wir mussten die Seite ja trotz Corona füllen (Turner-Foto: GES-Sportfoto/Edith Geuppert/augenklick).

sj: Was hieß das konkret?

Van de Flierdt: Was es schon immer hieß – nur drastischer, weil weniger Leute da waren und die Spät- und Sonntagsdienste dadurch noch häufiger. In Wochen mit Champions League habe ich meinen Sohn am Montagabend das letzte Mal gesehen und dann am Freitag wieder. Ich kam mir vor wie auf Montage. Und irgendwann fragt man sich dann schon, ob es einem das noch wert ist. Und in meinem Fall war die Antwort irgendwann: nein.

sj: Waren andere Sportmedien ein Thema?

Van de Flierdt: Nein. Ich habe ja sehr gerne in meinem Team gearbeitet, das Problem waren die Rahmenbedingungen, und die sind im Sport, da muss man sich nichts vormachen, letztlich überall gleich.

sj: Hat sich der Seitenwechsel diesbezüglich ausgezahlt?

Van de Flierdt: Ich empfinde es als einen Gewinn an Lebensqualität, dass ich mich morgens nicht mehr schon zwei Stunden vor dem Dienst einlese, damit ich in der Themenkonferenz etwas präsentieren kann, und dass ich abends nicht mehr als Letztes über die Seiten gucke, ob Fehler drauf sind. Es gibt auch jetzt Abendtermine, aber die sind dreimal im Monat und enden spätestens 21.30 Uhr. Das ist was anderes, als halb zwei nach Hause zu kommen. Eine Gemeinde spielt eben nicht Champions League.

Mit Martin van de Flierdt sprach Katrin Freiburghaus. Sie arbeitet von München aus als Freelancerin, unter anderem für Süddeutsche Zeitung und SID. Hier geht es zu ihrem Xing-Profil.