Die letzten Momente bei der Frankfurter Rundschau (FR) im Stadtteil Sachsenhausen gerieten ziemlich schmucklos. Am Ende seines letzten Arbeitstages in der Sportredaktion ging Jan Christian Müller am 28. Mai zur einzigen Sekretärin des Hauses, um seine Zugangskarte abzugeben. Fast 30 Jahre lang hatte der 61-Jährige als Redakteur für die überregionale Tageszeitung gearbeitet.
Nun endete seine Zeit bei der FR damit, dass er seine Schubladen ausräumte, ein Foto machte, seine weiße Plastikkarte übergab, der Politik-Ressortleiterin Christine Dankbar und dem Lokalchef Georg Leppert noch kurz die Hände schüttelte und sich ein letztes Mal verabschiedete bei den wenigen, die am Tag vor Christi Himmelfahrt da waren. Das war's dann, nachdem er sein halbes Leben lang für die Rundschau gearbeitet hatte.
Eine offizielle Verabschiedung gab es nicht. "Wenn es das Wort würdelos noch nicht gäbe, hätte man es für diese Form des Abschieds erfinden müssen", sagt Müller. So empfand nicht nur er. Danach verfasste Müller bei LinkedIn einen Beitrag und erhielt fast 600 Reaktionen, so viele wie nie zuvor in seinen 15 Jahren auf diversen Social-Media-Plattformen. In seinem Post erinnerte Müller an seine Anfänge bei der FR, zu der er nach sieben Jahren beim Bremer Weser Kurier 1993 als freier Mitarbeiter und Pauschalist gekommen war, ehe er am 1. Oktober 1995 eine frei gewordene Redakteursstelle übernahm. (Foto Müller: Frankfurter Rundschau)
"Ich (…) war mächtig stolz, als sich mit der Zugangskarte tatsächlich die Tür zum damaligen Rundschauhaus öffnete", schrieb Müller, "gerade habe ich sie abgegeben. Es folgt der fünfte Umzug der Redaktion." Wie nahe ihm der Abschied auch wegen seines Berufsethos' geht, wurde deutlich. "Eigentlich ist das hier ja nicht nur ein Businessnetzwerk, sondern auch ein Poserportal. Aber natürlich trägt man als Redakteur über drei Jahrzehnte hinweg auch Mitverantwortung für die Verzwergung, die wir alle miteinander bei der FR (…) erlebt haben. Online brummt der Laden zum Glück."
Immerhin erhielt Müller wie die drei weiteren bisherigen FR-Sportredakteure Jörg Hanau, Ingo Durstewitz und Jakob Böllhoff sowie der Pauschalist Frank Hellmann einen Anschlussvertrag beim Pressehaus Bintz-Verlag, der die Offenbach-Post (OP) herausgibt. Dort befindet sich seit dem 1. Juni auch ihre neue Sportredaktion. Die der FR existiert ja nicht mehr, fast 80 Jahre nach der Gründung der Zeitung und bald 75 Jahre, nachdem der erste Sportchef Erich Wick 1951 den Förderverein Schlappekicker ins Leben gerufen hatte.
"Wir sind nicht mehr bei der FR angestellt", macht Müller klar. Geblieben ist ihm und den anderen drei ehemaligen Rundschau-Sportredakteuren nur ihre E-Mail-Adresse, die an ihren vorherigen Arbeitgeber erinnert und damit an eine Institution auf dem deutschen Zeitungsmarkt. Müller sieht aber auch das Positive, er sagt: "Unser neuer Chefredakteur Philipp Keßler hat Ahnung vom Sport und Interesse daran."
Der Sportteil der FR wird jetzt in Offenbach produziert, ebenso wie der von der OP, des Hanauer Anzeigers (HA) und der Frankfurter Neuen Presse (FNP). Intern nennen sie sich die "Sport-Unit Hessen". Insgesamt 19 Redakteurinnen und Redakteure gehören dieser an und sitzen nun unter einem Dach; neben den vier Redakteuren von der FR sind es sieben von der FNP sowie acht von OP und HA, die bereits seit 2020 eine gemeinsame Sportredaktion unterhalten. Nur ein FNP-Redakteur war aus Altersgründen ausgeschieden. Doch abgesehen davon ging keine Stelle verloren – zumindest vorerst. (Foto Offenbach-Post Titelseite: Screenshot vds/sj)
In Offenbach wird seit Januar auch der Sport für die Wochenzeitung Freitags-Anzeiger für Mörfelden-Walldorf und Kelsterbach produziert. Nach eigenen Angaben kommt dieser Verbund der vier Tageszeitungen und des Wochenblatts auf eine verbreitete Auflage von 115.000 Exemplaren. Darin sind auch die E-Paper enthalten. Zum Vergleich: 2011 hatte allein die FR eine höhere verkaufte Auflage. Im Jahr 2024 lag die monatliche Online-Reichweite der vier Tageszeitungen demnach bei durchschnittlich 68,49 Millionen Visits und 97,32 Millionen Page Impressions.
Verbunden waren die einzelnen Titel schon zuvor allein dadurch, dass sie zur Ippen-Gruppe gehören. Zu dieser zählen beispielsweise auch der Münchner Merkur und die tz. Von diesen beiden Zeitungen übernehmen viele Ippen-Blätter seit Jahren unter anderem die Texte zum FC Bayern, darunter seit 2018 auch die FR.
Geleitet wird die "Sport-Unit Hessen" von Jörg Moll, seine Stellvertreter sind die bisherigen Sport-Ressortchefs der FR, Jörg Hanau, und der FNP, Kerstin Schellhaas. "So decken wir auch die Expertise von den einzelnen Titeln in der Ressortleitung ab. Damit sind wir gut aufgestellt", findet Moll und spricht von einer "ansehnlichen Zahl an Redakteuren". Er betont: "Der Markt ist im Wandel. Da versuchen wir Synergien zu schaffen. Aber es ist mitnichten so, dass da ein Kahlschlag vollzogen wurde." Der 55-Jährige hatte schon die gemeinsame Sportredaktion von OP und HA seit Oktober 2022 geleitet. Seit Februar 2024 gehört Moll zudem der Chefredaktion der OP an.
Die Kooperation hat sich dem Vernehmen nach ganz gut angelassen. Das sieht auch Moll so, zugleich räumt er ein: "Es ist ein großes Projekt, wenn du drei oder vier Titel zusammenführst. Und es sind natürlich Welten, die da aufeinanderprallen, allein schon von der Ausrichtung her. Die FR ist eher ein überregionales Medium, die anderen sind klassische Lokalzeitungen."
Zugleich ermögliche der Verbund aber neue Impulse für alle Beteiligten. "Die Qualitäten und Expertisen zu nutzen, auch neu zu durchmischen und zu denken, ist schon spannend", sagt Moll. Es soll auch nicht so sein, dass in allen Zeitungen identische Inhalte erscheinen. Das werde allein schon durch die Dreiteilung in den überregionalen, regionalen und lokalen Sport vermieden. (Foto Moll: Offenbach-Post/LinkedIn)
"Im überregionalen Sport ist es sinnvoll, dass man Synergien intensiver nutzt", sagt Moll. Aber auch da werde es weiterhin Unterschiede geben. Zudem soll beispielsweise der Transfer von Inhalten nicht nur von der OP in Richtung FR verlaufen. Moll sagt: "Wenn ein Gedanke oder ein Thema in der FR tiefer ausgearbeitet wird, ist das auch für unsere anderen Titel nicht uninteressant. Aber es dürfen auch titelbezogene Besonderheiten bestehen bleiben." Zudem werde es auch weiterhin möglich sein, dass beispielsweise Müller einen Leitartikel für die FR schreibt. Sofern er denn möchte.
Müller und die anderen drei ehemaligen FR-Redakteure sind natürlich froh, weiterhin eine feste Stelle zu haben und den Sportteil der Rundschau mitgestalten zu können. Er und seine Kollegen haben auch Verständnis für die Sparzwänge in der Branche, zumal die FR schon 2012 in die Insolvenz gegangen war, Müllers "tiefster Tiefpunkt". In den vergangenen beiden Jahren wurden zudem die Redakteursstellen im Rundschau-Sport von sieben auf vier fast halbiert. Es war klar, dass es so nicht mehr lange weitergehen konnte.
Und doch steht dieses Beispiel auch für den Niedergang der Zeitungsbranche, allen voran durch die immer weiter sinkenden Auflagen. Kooperationen mit Synergie- und Spareffekten gibt es mittlerweile vielerorts und dadurch immer weniger Vielfalt. Ungewöhnlich ist an diesem Fall, dass diese vollumfängliche Zusammenarbeit zunächst auf den Sport beschränkt ist. Und vor allem auch, dass die Redaktion einer überregionalen Zeitung in einen Verbund mit drei Lokalblättern eintritt, von denen eines nun der federführende Arbeitgeber ist.
Fragt man einen, der noch länger als Müller in der Sportredaktion der FR gearbeitet hat und die Geschehnisse nun von außen verfolgt, dann klingt ein großes Bedauern an. "Ich kann nur hoffen, dass diese Initiative erfolgreich sein wird und nichts an der Qualität des Rundschau-Sports ändert", sagt Harald Stenger, 74. Ausgeschieden war der langjährige Fußballchef bei der Rundschau 2001 nach 32 Jahren. Damals trat er die Stelle als Pressesprecher des Deutschen Fußball-Bundes und der Nationalmannschaft an.
Stenger liest seine FR weiterhin, und er findet, sie sei "immer noch eine kritische Stimme, die das Sportgeschehen mit Niveau und journalistischer Zivilcourage begleitet und kommentiert". Dafür gebühre den heutigen Kollegen "ein großes Kompliment, dass sie trotz aller schwieriger finanzieller Bedingungen und des starken Stellenabbaus den Auftrag der FR erfüllen, ein kritischer Begleiter des nationalen und internationalen Sports zu sein".
Stenger wird beobachten, inwieweit das auch künftig als Teil der "Sport-Unit Hessen“ gelingt. Mittelfristig dürfte die Zahl der bisherigen FR-Redakteure im Verbund abnehmen. Dann nämlich, wenn die ältesten aus dem Quartett, Hanau und Müller, in ein paar Jahren in den Ruhestand gehen. Dass ihre Stellen nachbesetzt werden, ist wohl kaum zu erwarten.