Was der Fall Relotius mit Sportjournalismus zu tun hat

Medien-Diskurs

22.03.2019 In der Medienszene ist seit dem Auffliegen des Betrügers Claas Relotius einiges los. Eifrig wird diskutiert. Eine Frage ist für Sportjournalistinnen und Sportjournalisten besonders relevant. Was haben wir damit zu schaffen?
Autor: Gregor Derichs
Der Fall Relotius hat in der Medienbranche hohe Wellen geschlagen. Gauner, Betrüger, Fälscher, Hochstapler – das waren einige der Titulierungen, die dem Reporter wegen seiner jahrelang verfälschten oder erfundenen Reportagen angehängt wurden. Den Spiegel traf die Kritik knüppelhart, weil seine Kontrollmechanismen versagt hatten.
 
Was der Fall mit dem Sportjournalismus zu tun hat? Anfang der 1990er-Jahre wurde einmal unter Kollegen diskutiert, was an Texteinstiegen in Features erlaubt sei und was nicht. Der malerische Einstieg, der eine Kabinenszene oder eine Mannschaftsbesprechung schildert, sei verboten, wenn man als Journalist nicht dabei gewesen war. Das Nachempfinden einer Situation sei unseriös und mehr oder weniger gleichzusetzen mit einer Erfindung. So argumentierte der leitende Kollege einer überregionalen Qualitätszeitung.
 
Aber was wäre, wenn man die Ereignisse erzählt bekommen hat? Ist es dann erlaubt, sie so anschaulich zu formulieren, dass der Eindruck entsteht, man wäre Zeuge gewesen? Die Antwort war wieder ein striktes Nein. Es sei Pflicht, dass der Erzähler seine eigene Rolle, seine Position deutlich mache. Andere Kollegen waren weniger streng.

Hier geht es gemessen an der Causa Relotius nicht um harte Fälschungen, aber womöglich fängt das Verbiegen der Realität ja hier an. Problematisch wird es vor allem, wenn man Szenen und Vorgänge auch noch falsch interpretiert, schlicht und einfach zu dick aufträgt – und das bei vollem Bewusstsein.
 
Auch im Sportjournalismus ist sicherlich manches Interview erfunden worden, das hat nicht nur Tom Kummer gekonnt, der Schweizer Journalist, der dem SZ-Magazin Fake-Gespräche aus den USA von Stars wie Brad Pitt oder Sharon Stone unterjubelte.

„Kein anderer kann über etwas berichten, was man erfunden hat“

Benjamin Denes hat in den Nuller-Jahren an der electronic media school in Potsdam eine Magisterarbeit „Fälschungen im Journalismus“ vorgelegt. Heute ist er Filmemacher bei Spiegel TV. „Einen Fake hat man exklusiv“, sagte er in einem Interview mit dem Tagesspiegel, „kein anderer kann über etwas berichten, was man erfunden hat. Für exklusive Geschichten gab es schon immer Ruhm.“ Das war bei Claas Relotius wohl ein Antrieb, wie kann man sonst die Chuzpe besitzen, sich auch noch jede Menge Preise auf öffentlichen Bu?hnen abzuholen?

Dem Argument, Relotius habe doch so viel schreiberisches Talent bewiesen, ist schwer zu folgen. 30 oder mehr Tage Recherchezeit für einen einzigen Text, der erstunken und erlogen ist (wie in diesem Fall im amerikanischen Fergus Falls), das ist auch für einen längeren Spiegel-Beitrag sehr viel. Genug jedenfalls auch für Halbtalentierte, um einen ordentlichen Rhythmus für 300 Zeilen zu finden oder hübsche Formulierungen ganz woanders zu klauen.

„Es kann aber auch die Eitelkeit einer ganzen Redaktion sein“
 
„Es kann aber auch die Eitelkeit einer ganzen Redaktion sein, die eine an sich wahre Geschichte mit unglaublichen Bildern, Tönen oder Statements aufwerten möchte“, sagt Denes. Der Spiegel hinterfragt sich massiv, es hat ein internes Beben mit personellen Konsequenzen gegeben. Recht seltsam wirken in der Debatte die Rufe, die gut geschriebene Story, die packende Geschichte als journalistisches Instrument sei am Ende.
 
Unlängst befand sich auf dieser Website eine Kritik am Spiegel wegen der Aufbereitung des Themas „europäische Superliga“. Die Tonalität, nicht die Sachverhalte wurde(n) als verbesserungswürdig eingestuft. Die Arbeit der Kollegen kann völlig anders bewertet werden: Rafael Buschmann und Michael Wulzinger werden am 25. März von Medium Magazin und Wirtschaftsjournalist als „Wirtschaftsjournalisten des Jahres 2018“ ausgezeichnet, stellvertretend für das Investigativteam, das die „Football Leaks“ aufarbeitete.

Gregor Derichs ist seit 2001 als freier Sportjournalist tätig. Zuvor arbeitete der 64-Jährige unter anderem in verantwortlicher Position bei dapd, dpa und SID. Der ausgebildete Diplom-Sportlehrer trat als Mitautor wie Chefredakteur zahlreicher Bücher und Magazine in Erscheinung. Zu den Kunden seiner 2015 zusammen mit Dirk Graalmann gegründeten Agentur Derichs & Graalmann Kommunikation gehört unter anderem Fußball-Bundesligist Hoffenheim.

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Februar/März 2019 des sportjournalist. Hier geht es zur Bestellung des Einzelheftes beim Meyer & Meyer Verlag. Mitglieder des VDS erhalten den alle zwei Monate erscheinenden sportjournalist automatisch per Post und können sich das Heft zudem im Mitgliederbereich kostenlos als PDF herunterladen. Dies gilt auch für ältere Ausgaben.