Ruth Gerbracht über ihren Rückzug aus dem Sportjournalismus

„Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen“

01.03.2023

Reporterin, Betriebsratsvorsitzende, Vorstand im Verein Bremer Sportjournalisten: Ruth Gerbracht kennt den Sportjournalismus aus über drei Jahrzehnten aktiver Arbeit und verschiedenen Blickwinkeln. Im Gespräch mit sj-Autor Stefan Freye erzählt sie von ihrem Abschied aus der Szene, beleuchtet negative, aber auch positive Veränderungen und verrät, warum sich für sie jetzt ein Kreis schließt.

 

Nach Ausbildung und Berufseinstieg in Unna wechselt Ruth Gerbracht 1989 zum Weser-Kurier nach Bremen, wo sie bis zur Pensionierung 2021 in der Hauptsportredaktion arbeitete und über viele Jahre als Betriebsratsvorsitzende aktiv ist. Ebenfalls 1989 wird die heute 66-Jährige Mitglied des Vereins Bremer Sportjournalisten, dessen Vorstand sie mit Unterbrechungen rund 15 Jahre angehört. Auf der Hauptversammlung am 22. März wird Ruth Gerbracht nicht mehr zur Wahl als 1. Vorsitzende kandidieren.

sportjournalist: Frau Gerbracht, in wenigen Wochen werden Sie dem Sportjournalismus endgültig den Rücken kehren. Gehen Sie mit einem lachenden oder einem weinenden Auge?

Ruth Gerbracht: Mit beidem. Ich habe tolle Zeiten erlebt im Sportjournalismus des Weser-Kurier. Aber die letzten Jahre könnte man als journalistisch eingeschränkt bezeichnen. Früher waren wir mehr vor Ort, heute läuft das gerade im Weltsport viel über Agenturen. Guter Journalismus kostet Geld, aber die Wenigsten sind bereit, das zu bezahlen. Es gab diverse Zusammenlegungen von Zeitungen und viele Sparmaßnahmen, die auch Korrespondenten betrafen. Daher bin ich ganz froh, dass ich die guten Zeiten damals erleben konnte und nicht ganz so traurig über den Abschied.

sj: Liegt es auch an dieser Entwicklung, dass Sie im Gegensatz zu manch anderen Ruheständlern nicht mehr als freie Journalistin aktiv sind?

Gerbracht: Ich traue mir gute Geschichten schon noch zu, aber es gibt eigentlich zwei Gründe: Zum einen gibt es genug junge Leute, die es machen können. Zum anderen habe ich gar keine Lust, meine Texte nicht mehr selbst in der Hand zu haben. Ich möchte da nicht abhängig sein. Ich bin auch sehr froh, dass ich bereits die letzten Jahre verstärkt in der Betriebsratsarbeit verbracht habe. Ich habe so viele Jahre im Sportjournalismus hinter mir und eigentlich alles gemacht (Foto: GES-Sportfoto/Marvin Ibo Güngör/augenklick).

sj: Sie sprachen bereits eine Entwicklung an. Inwiefern hat sich die Arbeit der Sportjournalisten in den vergangenen Jahrzehnten genau verändert?

Gerbracht: Es war früher einfacher. Es gab kein Social Media, du hattest Zeit zum Gespräch, für Termine und zur fundierten Recherche. Da konntest du dich mit einem Thema auseinandersetzen. Dann hat Social Media den Journalismus komplett verändert. Es muss jetzt schnell gehen. Ich will das gar nicht bewerten. Aber das Mehr an Aufgabe schränkt die Arbeit des Journalisten sicher ein. Heute gilt ja zum Beispiel auch: Online first. Das ist dann schon schwierig für jemanden, der eigentlich anders arbeitet.

sj: Und es wirkt sich auf die journalistische Verantwortung aus?

Gerbracht: Den Reportern und Reporterinnen wird heute kaum noch die Zeit gegeben. Du haust etwas raus, weil die schnelle Nachricht raus soll. Da entsteht Zeitdruck, und die Gründlichkeit bleibt vielfach auf der Strecke. Diesem Effekt können sich nur noch wenige Medienhäuser entziehen.

sj: Eine Nachricht ist heute mehr denn je eine Ware, und das ist ein Problem. Haben Sie eine Lösung?

Gerbracht: Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen. Es gibt ja auch noch eine seriöse Berichterstattung in Zeitungen oder in den öffentlich-rechtlichen Medien. Aber vielleicht sollte man schon in der Schule lehren, was Mediennutzung bedeutet. Dort muss man erklären, wem man trauen kann und was seriöse Nachrichten sind.

sj: Weil der Druck zur Zuspitzung von der breiten Masse kommt, also letztlich die Nachfrage entscheidet?

Gerbracht: Ja. Aber die Leute wissen meistens nicht, was es für das Nachrichtenwesen bedeutet, wenn nur in Überschriften gelebt und gedacht wird.

sj: Inwieweit hat es den Sportjournalismus verändert, dass Vereine über Soziale Netzwerke ebenfalls direkt an der Kommunikation beteiligt sind?

Gerbracht: Das hat den Journalismus ebenfalls sehr verändert. Die Leute konsumieren ungefiltert aus den Kanälen der Vereine. Das ist schon gruselig, aber eben auch eine neue Entwicklung. Die Deutungshoheit liegt heute nahezu komplett bei den Vereinen, jedenfalls im Profifußball. Aber: Die Wahrheit der Vereine ist nie die Wahrheit der Journalisten.

sj: Ist der Sportjournalismus eigentlich stärker betroffen als andere Ressorts?

Gerbracht: Nein, jeder Politiker hat doch heute einen Twitter-Kanal und betreibt seine eigene Öffentlichkeitsarbeit. Da gibt jeder seine Sicht der Dinge weiter, und für die Journalisten besteht die Schwierigkeit darin, das alles richtig einzuordnen (Gerbracht-Foto: privat).

sj: Was können berufsständische Verbände in diesem Zusammenhang tun?

Gerbracht: Vielleicht wäre es tatsächlich mal eine Aufgabe, sich noch mehr zu öffnen und Medienschulungen anzubieten. Das wäre doch mal was, wenn erfahrene Journalisten zu Projekttagen in die Schulen gingen. Dort könnte auch der VDS eine gute Rolle spielen. Du kriegst doch immer wieder zu hören: Die Zeitung ist so teuer geworden, die Rundfunkgebühren auch. Da könnte man mal erklären, wie lange es dauert, bis etwas recherchiert ist und so eine seriöse Geschichte entsteht.

sj: Machen Sie in der kritischen Bestandsaufnahme auch eine positive Entwicklung aus?

Gerbracht: Eigentlich ist alles schwieriger geworden. Ich kann mich noch gut an die 1990er-Jahre erinnern. Damals war Davis Cup in Bremen, und ich bin unbehelligt in die Stadthalle gegangen, um beim Training mit Boris Becker und den anderen Spielern zu sprechen. Das wäre heute undenkbar. Allerdings muss man fairerweise sagen: Es gibt heute auch viel mehr Medien, und so wird der Zugang allein aus diesem Grund beschränkt. Aber mir fällt tatsächlich noch eine positive Entwicklung ein: Es gibt mehr Frauen im Sport, vor allem im TV-Bereich, und insgesamt wird ihnen viel mehr Beachtung geschenkt. Auch die sportlichen Leistungen der Frauen werden mehr gewürdigt, als es früher der Fall war.

sj: Sie nehmen für den VDS seit Jahren die Aufgabe der Beauftragten für Chancengleichheit wahr. Haben Sie viel zu tun?

Gerbracht: Nein, gar nichts.

sj: Woran liegt das?

Gerbracht: Ich weiß es nicht. Entweder haben sich die Journalisten entwickelt und das Problem gibt es gar nicht mehr. Etwa, weil die Frauen heute selbstbewusster auftreten als zu früheren Zeiten. Das würde mich natürlich freuen. Es kann aber auch sein, dass man lieber nicht darüber redet. Das wäre dann nach wie vor ein Problem (Foto Senior Partner in School Bremen: SiS).

sj: Die Zeit im Sportjournalismus ist nun jedenfalls vorbei. Wie sieht Ihr Alltag heute aus?

Gerbracht: Ich unternehme mit meinem Mann kurze Wochenendurlaube, bin vor allem aber mit dem Aufbau eines Vereins beschäftigt. Er heißt „Seniorpartner in School“ und bildet Leute über 55 Jahre als Mediatoren aus.

sj: Was ist deren genaue Aufgabe?

Gerbracht: Sie gehen einmal in der Woche in die Grundschulen und machen Streitschlichtung. Ich fand das toll, als ich davon hörte. Wir hatten im vergangenen April unsere Gründungsveranstaltung, und nun stehe ich mit meinen Mitstreitern vor der Aufgabe, den Verein zu etablieren. Wir leben ja von Spenden, müssen also Geldgeber akquirieren und auch Öffentlichkeitsarbeit betreiben.

sj: Wie viel Zeit wenden Sie dafür auf?

Gerbracht: Das beschäftigt mich bestimmt 20 Stunden in der Woche. Ich bin ja auch eine von 30 Mediatoren, die bereits regelmäßig in die Schule gehen. Die Kinder sind so dankbar, und die Lehrer freuen sich, dass wir sie etwas entlasten. Gerade die Besuche von Schulen in sozialen Brennpunkten erden mich und machen mir bewusst, wie gut ich es im Leben hatte. Außerdem schließt sich für mich der Kreis: Ich bin ja als studierte Lehrerin zum Sportjournalismus gekommen und gehe nun zurück in die Schule.

Mit Ruth Gerbracht sprach Stefan Freye. Er ist 2. Vorsitzender des Vereins Bremer Sportjournalisten. Freye arbeitet als Freelancer von der Hansestadt aus. Hier geht es zu seinem LinkedIn-Account.