Gespräch mit Ronald Reng über sein Buch "1974"

"Für mich war eigentlich alles neu"

03.06.2024

Im Gespräch mit Maik Rosner erzählt der Autor, warum sein neues Werk vor allem ein Geschichtsbuch ist und spricht über überraschende wie schöne Erkenntnisse.

 

sportjournalist: Herr Reng, in Anlehnung an den Titel: Wie viele deutsche Begegnungen hatten Sie für Ihr Buch?

Ronald Reng: Es waren ungefähr 15 Hauptpersonen, mit denen ich ausführlich gesprochen habe. Spannend war, dass so gut wie alle, die ich angefragt habe, zugesagt haben. Das war nicht unbedingt zu erwarten, beispielsweise beim ehemaligen RAF-Terroristen Klaus Jünschke.

sj: Wie viel Zeit haben Sie insgesamt für das Buch aufgewendet?

Reng: Ungefähr drei Jahre. Genau lässt sich das gar nicht sagen. Das erste Interview habe ich noch 2020 zu Corona-Zeiten mit Günter Netzer geführt.

sj: Wie haben Sie die Buch-Idee entwickelt? Und welcher Grundgedanke stand dabei am Anfang?

Reng: Zunächst sind mir nur Ideenfunken gekommen, mit denen ich aber noch kein Buch verbunden habe. Sowohl der Tod von Horst Eckel als auch der Tod von Gerd Müller haben in mir den Gedanken ausgelöst, was die großen Spieler eigentlich zurücklassen und wie schade es ist, dass mit ihrem Tod ihre Geschichten oft verschwinden. Hinzu kam, dass unser Sohn sagte, er könne sich gar nicht vorstellen, dass es zwei deutsche Staaten gab. Das alles hatte ich im Hinterkopf, als mir irgendwann beiläufig aufging, dass sich das einzige Fußball-Länderspiel zwischen der BRD und DDR 2024 zum 50. Mal jähren wird. Ereignisse wie dieses Spiel, die für die Menschen in beiden deutschen Staaten eine ähnliche Bedeutung hatten, gab es sehr selten. Aus diesen Gedanken heraus wurden die Ideenfunken bei mir zur Flamme: Ich wollte versuchen, über dieses Spiel Zeitgeschichte zu erzählen. (Reng-Foto: Piper Verlag)

sj: Herausgekommen ist ein Mosaik der Zeit, um das große Bild sichtbar zu machen und den Kontext herzustellen.

Reng: Genau. Wie immer in einem Buch ging es mir darum, den Kontext beiläufig zu vermitteln, indem ich vordergründig von einzelnen Menschen und ihren Erlebnissen erzähle, dem Leser aber nebenbei das gesamte Bild der Epoche deutlich wird.

sj: Wie sind Sie dabei methodisch vorgegangen?

Reng: Das Allererste war, mir das Spiel anzuschauen. Das habe ich dreimal gemacht, wie jeder gute Fußballtrainer. Christian Streich habe ich mal besucht, da schaute er sich gerade ein Spiel in doppelter Geschwindigkeit an, um Zeit zu sparen. Das konnte ich nicht. Nach dem Video-Studium hatte ich für mich geklärt, welche Spieler ich sprechen möchte: jene, für die das Spiel eine essenzielle Bedeutung hatte. Auf bundesdeutscher Seite zum Beispiel Günter Netzer, weil es seine einzigen 20 Einsatzminuten bei einer WM waren. Er wurde ja danach für die Niederlage gegen die DDR zum Sündenbock gemacht. Aus den Spieler-Interviews ergab sich vieles weitere. Vieles war auch Archivrecherche, sei es aus Tageszeitungen, Stasi-Unterlagen oder dem Bundesarchiv mit Regierungsaufzeichnungen. Dabei bin ich immer wieder auf Themen der Zeit und Verknüpfungspunkte zu diesem Spiel gestoßen. So bin ich sozusagen drei Jahre lang immer weiter vorwärts gestolpert. (Foto Buch-Cover: Piper Verlag)      

sj: Wie viel für Sie Neues der deutsch-deutschen Geschichte haben Sie dabei entdeckt?

Reng: Für mich war eigentlich alles neu in den Details. Ich habe mir dieses Buch erarbeitet wie ein Historiker, der auf die Römer-Zeit blickt, also ohne eigene Erlebnisse, sondern nur durch Recherche. Aber Deutschland ist ja ein fantastisches Land für die Recherche, weil es so tolle Archive und Bibliotheken gibt. Auch der Zugang zu den Stasi-Unterlagen war erstaunlich einfach.

sj: Sie beschreiben das Spiel als "zeitgeschichtliche Klammer" für die Epoche. Um das Spiel geht es dabei ja eigentlich nur am Rande. Es ist vielmehr der Aufhänger für die Zeit, die Sie einfangen.

Reng: Das Spiel ist der Anlass, aber es ist im Kern kein Buch über ein Fußballspiel. Wobei ich trotzdem glaube, dass es kein anderes journalistisches Werk gibt, in dem man so viel über dieses Spiel erfährt. Aber es ist völlig richtig, dass es eher ein Geschichts- als ein Fußballbuch ist. (Foto: firo sportphoto)

sj: Haben Sie während der Rückblende festgestellt, dass ein Zusammenwachsen stattgefunden hat? Oder gibt es immer noch viel Trennendes in den deutsch-deutschen Begegnungen?

Reng: Die beiden Landesteile sind schon noch sehr unterschiedlich. Ich schreibe Bücher seit 22 Jahren, und ich habe mit diesem Buch zum ersten Mal Lesungen in Ostdeutschland gehabt, in Leipzig und Halle an der Saale. Völlig wertfrei lässt sich feststellen: Es wird noch anders gelesen in Ostdeutschland. Ich finde das aber gar nicht schlimm.

sj: Was meinen Sie damit?

Reng: Ich lebe ja in Südtirol, und Nord- und Süditalien sind mindestens genauso unterschiedlich. Auch dort stehen sich einige Leute aus beiden Landesteilen zunächst mit Vorurteilen gegenüber. Dabei ist es ja durchaus schön, wenn ein Land vielfältig ist. Es gibt einfach eine andere Historie in den deutschen Landesteilen, und davon wird das Leben bis heute in vielen Facetten geprägt. Was man aber schon 1974 gesehen hat, und das war für mich eine überraschende und schöne Erkenntnis dieses Buchs: Dass die DDR-Spieler in der Bundesrepublik, im Trainingslager in Quickborn, absolut wohlwollend empfangen worden sind. Wenn sich Leute aus Ost und West begegnen, gehen sie in aller Regel wie die meisten Menschen trotz ihrer allen politischen und gesellschaftlichen Prägung höflich, freundlich und sehr oft sogar neugierig miteinander um.

Zur Person: Ronald Reng, 53, lebt mit seiner Familie in Bozen. Er arbeitet als freier Journalist und vor allem als Buchautor. "1974 – Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte" ist sein 13. Buch.