ESPN-Reporter Archie Rhind-Tutt über den deutschen Fußball

"In England bekäme ich dafür eine Ohrfeige"

02.01.2024

Der in London geborene und aufgewachsene Brite Archie Rhind-Tutt (31) lebt seit 2015 in Köln und arbeitet seit 2020 als Bundesliga-Reporter für den US-Sportsender ESPN. Im Interview mit sj-Autor Maik Rosner spricht das VDS-Mitglied über seinen Job, kulturelle Unterschiede und Smalltalk mit Bayerns Trainer Thomas Tuchel über Trainingsjacken aus Ballonseide.

 

sportjournalist: Herr Rhind-Tutt, wie viele Trainingsanzüge aus Ballonseide besitzen Sie?

Archie Rhind-Tutt (lacht): Ich weiß nicht, ich habe sie nicht gezählt.

sj: Sie tragen die auch gerne während Ihrer Interviews. Warum?

Rhind-Tutt: Ich genieße es, etwas Buntes anzuhaben. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass jeder, der beim Fernsehen vor der Kamera steht, ein gewisses Ego hat. Es ist eine Gratwanderung: Die Interviews sollen Spaß machen, aber auch sachlich bleiben. Ich wollte etwas anderes probieren, weil Interviews nach einem Spiel auch sehr viel Routine sein können. (Foto: privat)

sj: Bayerns Trainer Thomas Tuchel war angetan von Ihrer Trainingsjacke.

Rhind-Tutt: Es ist interessant zu sehen, wie die Trainer damit umgehen. Tuchel war sehr locker. Er sagte, er habe auch einige Trainingsjacken aus Ballonseide. Solche Reaktionen sind auch deshalb interessant, weil Tuchel oft streng wirkt und die Wahrnehmung von ihm in Deutschland weniger herzlich ist als in England.

sj: Inwiefern?

Rhind-Tutt: In England wird er mehr auf einer menschlichen Ebene gesehen. Hier in Deutschland ist die Szene von Jürgen Klopps Persönlichkeit dominiert. Alles wird durch dieses Prisma gesehen, aber ich denke, es muss Raum für Menschen mit anderen Charakteren geben, um sich zu öffnen. Wenn ein Outfit von mir dabei hilft: cool. Aber ich weiß nicht, wie groß die Rolle ist, die es spielt.

sj: Harry Kane haben Sie gefragt, ob ihm bei der Unterschrift klar gewesen sei, beim FC Bayern eine Lederhose tragen zu müssen. Müssen Sie auch zusätzliche Aufmerksamkeit erzeugen, um mit der Bundesliga bei ESPN durchzudringen? (Foto: Screenshot SJ/ESPN)

Rhind-Tutt: Ich finde Aufmerksamkeit aus den richtigen Gründen gut, auch weil es im Fernsehen um Unterhaltung geht. Aber Aufmerksamkeit darf kein Selbstzweck sein.

sj: Wie sind Sie zum deutschen Fußball gekommen?

Rhind-Tutt: Das hat mit einer Schulreise nach Nürnberg 2008 begonnen. Dabei ging es um die Geschichte des Nationalsozialismus, und als wir auf dem Zeppelinfeld waren, habe ich die Menschenmassen zum Spiel des 1. FCN gegen Hansa Rostock gehen sehen. Das hat mein Interesse damals ehrlich gesagt mehr geweckt. Obwohl ich nicht im Stadion war, weiß ich noch, dass Nürnberg 1:1 gespielt und Jan Koller getroffen hat.

sj: Wie ist es für Sie, in der Bundesliga zu arbeiten?

Rhind-Tutt: Als ich 2015 angefangen habe, dachte ich, ich wüsste viel über die Bundesliga. Aber mir wurde schnell gezeigt, dass ich noch viel zu lernen habe. Ich lerne immer noch. Das galt und gilt auch für die deutsche Sprache. Ich wurde beispielsweise einmal zu einem Spiel nach Freiburg geschickt und hatte Probleme, Christian Streich zu verstehen.

sj: Das muss nicht unbedingt mit Ihrem Deutsch zu tun gehabt haben.

Rhind-Tutt: Als Nicht-Muttersprachler war sein Akzent für mich schwierig. Dass ich Interviews inzwischen auf Deutsch führen kann, ist für mich der Beweis, dass sich mein Deutsch seither verbessert hat. Mittlerweile hat Christian Streich mir aber auch schon Antworten auf Englisch gegeben. (Foto: privat)

sj: Wie nehmen Sie die Bundesliga wahr im Vergleich zur Premier League, mit der Sie aufgewachsen sind?

Rhind-Tutt: Die Bundesliga und was um sie herum passiert, sind sehr weit entfernt von der Premier League. Es ist eine andere Fußball-Kultur, vor allem auch ein anderer Umgang miteinander. Ich hatte beim FC Fulham mehr als zehn Jahre lang eine Dauerkarte. Dann kommt man nach Deutschland und denkt: Okay, es ist rauer hier.

sj: In welcher Hinsicht?

Rhind-Tutt: Ein Problem des deutschen Fußballs ist, dass die Prioritäten der Fans und der Verantwortlichen immer weiter auseinandergehen. Die Fans wollen Erfolg, aber nicht auf Kosten eines Ausverkaufs. Die Verantwortlichen wollen mit der Premier League konkurrieren. Ich finde, die Bundesliga ist gut so, wie sie ist. Und die Premier League zeigt ja auch: Je mehr Geld man braucht, desto mehr fragwürdige Quellen muss man anzapfen.

sj: Ist die Reporter-Kultur in Deutschland Ihrer Ansicht nach auch eine ganz andere als in England?

Rhind-Tutt: Auf jeden Fall. In Deutschland ist man deutlich direkter, zumindest im TV und Radio. Manchmal höre ich deutsche Reporterinnen oder Reporter fragen: 'Sie haben verloren, warum?' Der englische Journalist in mir fragt sich dann: Ist das dein Ernst? Würde ich eine Frage so formulieren, bekäme ich in der Premier League von einem Trainer eine Ohrfeige.