Interview zur Politisierung der Sportberichterstattung

„Man muss das richtige Maß beibehalten“

01.08.2023

Die (Sport-)Medienexpertin Dr. Verena Burk ist seit 2009 Akademische Oberrätin am Institut für Sportwissenschaft der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind die Sportberichterstattung, Social Media und Sport sowie die Organisation des Spitzensports. Darüber hinaus gehört sie seit 2007 dem Exekutivkomitee des Internationalen Hochschulsportverbandes FISU an. Auf die zunehmende Politisierung der Sportberichterstattung blickt sie daher aus mehreren Perspektiven. Frank Schneller bat sie zum Interview.

 

sportjournalist: Frau Dr. Burk, Sport ist politisch, die Sportberichterstattung wird zunehmend politischer. Ergo wird erwartet, dass Reporter und Reporterinnen bei großen Events genauer hinsehen und beschreiben. Ist das auch aus Ihrer Sicht die Aufgabe eines Sportreporters?  

Dr. Verena Burk: Der Journalismus muss bestimmte Aufgaben erfüllen – dazu gehört nicht nur Unterhaltung, sondern auch die sachliche Information, die kritische Betrachtungsweise. Journalismus hat eine Kontrollfunktion, muss Missstände aufzeigen. Dieser generelle Anspruch gilt auch für den Sportjournalismus. Und insofern ist er durchaus in der Pflicht, sich auch politischen Themen anzunehmen. Denn Sport ist auch eine Projektionsfläche entsprechender Debatten.

sj: Politische Einflüsse wirken auf den Sport und den Sportjournalismus ein. Und umgekehrt?

Burk: Man kann von einer Wechselbeziehung sprechen. Bei den großen Sportereignissen spielen zum Beispiel Kriege, Konflikte, Nachhaltigkeit, Menschenrechte eine wichtige Rolle. Es ist dann auch Aufgabe des Sportjournalismus, diese Debatten nachzuzeichnen – und über die Berichterstattung einen gewissen Veränderungsdruck bei den Organisationen und Verbänden auszulösen. Nehmen Sie nur die Gender-Diskussion – diese wirkt ja zwangsläufig bis in die Wettkampfstrukturen hinein.

sj: Corona, Olympische Spiele in China, Fußball-WM in Katar, Russlands Angriff auf die Ukraine, Boykotts, Doping, Menschenrechte: Sport ist seit Jahren extrem aufgeladen. Was bedeutet das für die journalistische Ausbildung?

Burk: Im Ausbildungswesen muss man auf den Umgang mit den geschilderten Gegebenheiten hinwirken. Allgemeinwissen ist von großem Vorteil. Man kann bei der Ausbildung ansetzen, aber eben auch durch Fortbildungen. Man sollte den Horizont werdender Sportjournalist*innen so gut wie möglich weiten. Auch historisches und sporthistorisches Wissen gehören dazu. Um sich an der Debatte rund um eine mögliche deutsche Bewerbung für die Olympischen Spiele 2036 journalistisch zu beteiligen, muss man wissen, was 1936 geschehen ist. (Burk-Foto: privat)

sj: Sehen Sie hier Defizite? Wurden und werden Geschichtskenntnisse in unserer Branche vernachlässigt?

Burk: Ja. Wenn in meinen Lehrveranstaltungen die Olympia-Boykotte von Moskau 1980 und Los Angeles 1984 thematisiert werden, sind diese bei der heutigen Generation Studierender nicht präsent. Das ist nur ein Beispiel, es beschreibt aber leider den Trend in der universitären sportwissenschaftlichen Ausbildung. Spezifisches sporthistorisches Know-how ist oftmals nicht vorhanden.

sj: Wenn es um juristische, medizinische oder politische Expertise geht – müssen andere Ressorts dann mehr einbezogen werden, um die Qualität der Berichterstattung zu wahren?

Burk: Eindeutig: ja. Man sollte die Kompetenz der anderen Ressorts unbedingt nutzen. Ich glaube nämlich nicht, dass ein Sportjournalist – je nach Rahmenbedingungen, Zeitdruck bei der Recherche, Aktualität usw. – sämtliche politische, wirtschaftliche oder auch juristische Aspekte und Kenntnisse auf sich vereinen kann. Dass er sämtliche Themen in ihrer Komplexität immer stichhaltig einordnen kann. Wenn ich allein das Thema Doping betrachte – das beinhaltet derart viele juristische und medizinische Aspekte, die kaum noch nachvollziehbar sind. Da verlässt der Sportjournalismus zwangsläufig sein vertrautes Terrain.

sj: Können das alle Redaktionen liefern?

Burk: Das ist ein berechtigter Einwand. Ich glaube nicht, dass jedem wirklich alle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können. Die lokalen und regionalen Redaktionen können das in der Regel im Alltag nicht leisten.

sj: Die sportpolitische Berichterstattung driftet mitunter in Haltungs- und Moraljournalismus ab. Ist hier nicht Vorsicht geboten?

Burk: Fingerspitzengefühl jedenfalls. Wir blicken mit unseren Wertvorstellungen oft auf Länder, die noch etwas Zeit benötigen. Ich finde es wichtig, kritisch aus dem Ausland zu berichten. Man sollte hinschauen, aber Fortschritte genauso erwähnen wie Missstände.

sj: Sind die sportlichen Mega-Events überfrachtet? Erfolgt Kritik zu reflexartig?

Burk: An Sportgroßveranstaltungen sind immer riesige Erwartungen geknüpft. Hoffnung auf Veränderung. In China. In Katar. Das sind hochpolitische Veranstaltungen. Aber man muss das richtige Maß beibehalten bei der Einordnung und der Erwartung, was der Sport bei der Öffnung von Gesellschaften leisten kann.

sj: Wie nachhaltig ist die kritische Berichterstattung über Missstände in diesen Ländern?

Burk: Selten nachhaltig genug. Im Vorfeld von großen Sportevents wird die sportpolitische Berichterstattung enorm angekurbelt, dann haben die kritischen Themen Konjunktur. Während des Events sind sie auch noch bedingt gegenwärtig. Aber danach nimmt die mediale Aufmerksamkeit total ab. Ich fände es wichtig, dass Sportredaktionen ihre eigenen Themen im Nachgang noch mal aufgreifen würden. Überprüfen: Was wurde eigentlich daraus?

sj: Den Medien gefällt es, wenn Sportstars öffentlich Position beziehen. Man hat den Eindruck, es wird zunehmend sogar erwartet. Wie stehen Sie dazu?  

Burk: Geäußerte, öffentlich gemachte Haltung von Sportstars ist populär, das stimmt. Wir erleben diese auch durch eine zunehmende Kommunikations-Autonomie der Aktiven. Das ist zunächst wünschenswert. Aber: Nicht jeder muss sich zu allem äußern. Wer nach Peking reist, um Gold im Rodeln zu holen, muss dort keine politische Agenda abarbeiten. Dies kann man jedenfalls nicht verlangen. Da setzen sich viele Aktive einen ziemlich schweren Rucksack auf. Beziehungsweise: Er wird ihnen aufgesetzt … (Haaland-Foto: firo sportphoto/augenklick)

sj: … zum Beispiel vom DFB, wenn er seine Nationalteams als Werte-Botschafter entsendet. Bei der WM in Katar endete das desaströs.

Burk: Es war naiv zu glauben, die Diskussion rund um die Aktion mit der One-Love-Binde erledigt sich während des Turniers irgendwie von alleine. Dass die FIFA auf Zeit spielt und das Thema nicht aktiv auf die Tagesordnung bringt, war naheliegend. Hier lag das Versäumnis eher beim DFB. Das ist unverständlich für mich: Wenn ich mich außerhalb der Verbandsvorgaben bewegen will, muss ich es rechtzeitig klären und es dann nicht auf dem Rücken der Sportler austragen.

sj: Werden die zu oft in eine Rolle gedrängt?

Burk: Wenn die Aktiven es wollen, ist es in Ordnung. Sie nutzen dafür ja auch die Sozialen Netzwerke. Hier gibt es positive Beispiele wie das von Erik Lesser, der seinen Instagram-Account ukrainischen Sportlern überließ. Aber Aktive sollten sich nicht in eine Rolle drängen lassen. Es muss ihr Anliegen sein, sonst ist es nicht mehr authentisch und wirft die Frage auf: Welcher Zweck steckt eigentlich dahinter?

sj: Erwarten Sie eine weitere Zunahme politischer Strömungen in der Sportberichterstattung?

Burk: Ja, vor allem in Bezug auf eine mögliche Olympia-Bewerbung. Das ist ein aufgeladenes Thema. Gigantismus. IOC. Kosten. Sinn und Zweck der Spiele. Dazu wird es eine sehr lebhafte Berichterstattung im Sport geben.