Gerhard Waldherr über sein Journalisten-Buch zur WM

„Über Geschichten kann man das Thema besser aufarbeiten“

11.11.2022

Von 1954 bis 2022: Gerhard Waldherr hat ein Buch herausgegeben, in dem viele renommierte Sportjournalisten ihr ganz persönliches Erleben der jeweiligen Fußball-WM schildern. Christoph Ruf hat mit ihm darüber gesprochen.

 

Die Faszination der Fußball-WM ist für Gerhard Waldherr ungebrochen. Und doch ist das Turnier in Katar für ihn ein so großer Affront, dass diese Endrunde zu einer Initialzündung für sein neues Buch „Die WM und ich – Reporter erzählen von Bern bis Katar, Momenten für die Ewigkeit und was aus dem Fußball geworden ist“ wurde (M/ELEVEN by Maik Nöcker, Hardcover, 320 Seiten. ISBN 978-3-96233-356-0, 28,00 Euro). Im Gespräch mit Christoph Ruf berichtet der 62-Jährige, wie die WM sein Leben verändert hat.

sportjournalist: Gerhard Waldherr, in Ihrem Buch haben Sie allerlei namhafte Autoren versammelt. Wie kamen Sie alle miteinander ins Geschäft?

Gerhard Waldherr: Einige kannte ich noch von meiner Zeit beim stern oder als Korrespondent für diverse Magazine. Hans Eiberle war in der Zeit bei der SZ mein Tischnachbar, ein engagierter Kollege, der keine Angst vor Konflikten hatte und mit seinem Text „Die Samba stirbt“ für mich die Benchmark als Sportjournalist gesetzt hat. Ich bin sehr froh, dass der Text als einer von sechs Eiberle-Texten auch im Buch ist (Waldherr-Foto: David Payr).
 
sj: Das Buch ist voller plastischer, schön erzählter Geschichten, die oft von einem persönlichen, manchmal fast privaten Verhältnis zu Spielern und Offiziellen zeugen. Die Geschichten aus den vergangenen 20 Jahren sind nüchterner, analytischer, vielleicht auch kritischer?

Waldherr: Ich bin kritischen Themen damals eher aus dem Weg gegangen. Ich war jung und teilweise von der großen Sportbühne tatsächlich überfordert. Es mag aber auch an der Faszination der Nähe liegen, die immer eine Gefahr ist und früher vielleicht weniger hinterfragt wurde. Ich saß als junger Mann im Mannschaftsbus oder Flugzeug neben Heynckes, Müller-Wohlfahrt, Uli Hoeneß, das war damals noch möglich. Dieses Privileg sorgt für mehr Verständnis, man wird Teil von deren sportlichen Leben. Ich könnte mir vorstellen, dass jüngere Kollegen neidisch sind, wenn sie hören, wie man damals noch arbeiten konnte. Interviews am Entmüdungsbecken sind in Zeiten des Autorisierungswahns und der aufgeblähten Pressestellen jedenfalls nicht mehr so einfach.
 
sj: Sie schreiben: „Der Sport ist mir abhandengekommen. Die WM war immer präsent.“ Wie äußert sich das?

Waldherr: Alle vier Jahre gibt es vier Wochen, in denen ich mich anders verhalte als sonst. In denen richte ich meinen Terminplan nach dem Turnier und sage alles andere ab – es sei denn, es steht dort ein Fernseher. Ich treffe mich mit Leuten zum Fußballgucken, die ich sonst nicht oder selten sehe. Ich habe auch in Neufundland, Kasachstan und Puerto Rico immer einen Fernseher gefunden. Weltmeisterschaften begleiten mich von Kindesbeinen an. Und nun komme ich davon einfach nicht los.
 
sj: Freuen Sie sich auf das Turnier in Katar?

Waldherr: Der Gefühlszustand ist noch offen. Aber die Spiele werde ich sehen. Das geht gar nicht anders. Auch wenn dieses Turnier natürlich ein Affront ist. Die FIFA hat über 200 Mitgliedsverbände, zwei Drittel davon haben – nun ja – andere demokratische Standards. Klar ist also: Schon die Machtbasis von Präsident Gianni Infantino ist mafiös, er selbst treibt es derart auf die Spitze, dass einem Sepp Blatter fast schon harmlos vorkommt. Das ist ja das Perfide daran: Sie beuten unsere Emotionen aus. Aber ich frage mich halt auch, warum wir in der medialen Öffentlichkeit kein Problem mit der Menschenrechtslage in Birma haben oder der Ausbeutung von Kindern, die in Asien unsere Textilien zusammennähen? Oder mit den Machenschaften der Agrar- und Lebensmittelindustrie. Diese Gesellschaft setzt sich bei Markus Lanz aufs Sofa und fordert Werte ein – ohne zu hinterfragen, wie viel an den Problemen der Welt mit dem eigenen Handeln zu tun hat (Cover-Abbildung: M/ELEVEN by Maik Nöcker).
 
sj: War diese Widersprüchlichkeit auch die Initialzündung für das Buch?

Waldherr: Nachdem ich eine Deutschlandfunk-Reportage über Katar und den Ausverkauf des Fußballs gehört habe und mir eingestehen musste, dass ich wohl trotzdem zuschauen würde, dachte ich: Wie wäre es denn, wenn man die Weltmeisterschaften von 1954 bis heute von Leuten erzählen lässt, die dabei waren? Man würde dann sicher merken, wie sich der Fußball, die Medien, das Marketing, die Event- und Fankultur verändert haben. Und dass die Weltmeisterschaften immer in geopolitische Zusammenhänge eingebettet waren und wenn es nur darum ging, die Märkte auszubauen. Ich finde: Über Geschichten kann man das Thema besser aufarbeiten als über Transparente und Parolen. Man kann so etwas plakativ thematisieren – oder mit Geschichten, die Bilder und Emotionen entstehen lassen.
 
Mit Gerhard Waldherr sprach Christoph Ruf. Er arbeitet als Freelancer von Karlsruhe aus. Hier geht es zu Rufs Website.