SZ-Reporter Martin Schneider über WM in Katar

„Wir waren noch nie der Meinung, Sport sei unpolitisch“

12.11.2022

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar stellt Reporterinnen und Reporter vor große Hürden. Wie gehen wir damit um? Was gilt es zu beachten? Und wie kommt das alles bei der Leserschaft an? sportjournalist-Autor Christoph Ruf hat mit Martin Schneider von der Süddeutschen Zeitung über diese Fragen gesprochen.

 

Martin Schneider, Jahrgang 1988, stammt aus dem Saarland, lernte bei der Saarbrücker Zeitung und an der Deutschen Journalistenschule in München. Seit 2012 ist er lose, seit 2016 fest beim Sport der Süddeutschen Zeitung.

sportjournalist: Martin Schneider, der Slogan „Boycott Qatar 2022“ hängt derzeit in vielen Fankurven und Kneipen, die auf Public-Viewing-Veranstaltungen verzichten. Gab es in Ihrer Redaktion auch eine Grundsatzdiskussion darüber, aus Katar zu berichten?
 
Martin Schneider: Nein, und das wäre ja auch seltsam gewesen. Schließlich ist das ja nicht das erste sportliche Großereignis, das unter schwierigen Bedingungen stattfindet. Die Diskussion hätten wir dann vor Winter-Olympia in Sotschi 2014, der Fußball-WM in Russland 2018 oder Olympia in Peking 2022 auch führen müssen – und schon da wäre ein solch aktivistischer Ansatz fehl am Platze gewesen. Schließlich ist es ja gerade als Leit- und Massenmedium unsere Aufgabe zu berichten. Dann können und müssen die Leserinnen und Leser entscheiden, wie sie sich zu dem Turnier verhalten (Abbildung: Boycott Qatar 2022).

sj: Dennoch kann man journalistisch mit dem Turnier nicht so umgehen, als ob es in Kopenhagen oder Paris stattfände. Wie löst die SZ diesen Konflikt für sich auf?
 
Schneider: Auch da gibt es ja leider eine gewisse Routine angesichts der vielen Großereignisse, die zuletzt an autokratische Regime vergeben wurden. Unser Ansatz muss da sein, immer Kontext und Hintergrund zu liefern und dem einen relevanten Teil der Berichterstattung einzuräumen. Wobei wir noch nie der Meinung waren, dass Sport unpolitisch sei, was lange Zeit eine der populärsten Lügen der Branche war. Es wird jetzt darauf ankommen, die Bedingungen, unter denen dieses Turnier stattfindet, immer wieder zu thematisieren und das an der richtigen Stelle zu tun. Nicht nur in der ausführlichen Reportage, die Holger Gertz schreiben könnte, aber auch nicht auf Krampf als Einschub in einem Bericht über die Partie Uruguay gegen Ghana, in dem noch schnell erwähnt wird, welche geopolitische Funktion die WM für die Machthaber hat.
 
sj: Zumal es passieren könnte, dass die Leute die Augen verdrehen, wenn erst einmal der Ball rollt und sie mit einem Beitrag über die Menschenrechtslage in Katar behelligt werden.
 
Schneider: Ich bin da sehr gespannt. Denkbar wäre sowohl, dass genau das passiert, dass also das Interesse an Hintergrundberichten ab dem Moment erlahmt, ab dem das deutsche Team die ersten Erfolge feiert. Aber auch die umgekehrte Entwicklung wäre möglich: Dass keiner mehr wissen will, warum der Senegal als Außenseiter gewonnen hat, weil die Politik alles überlagert. Das fände ich ebenfalls schade, denn, um beim Beispiel zu bleiben, die senegalesischen Spieler haben das Turnier genauso wenig nach Katar geholt wie die Spieler der anderen Mannschaften (Foto: GES-Sportfoto/Marvin Ibo Güngör/augenklick).
 
sj: Wird es denn überhaupt möglich sein, vor Ort gründlich zu recherchieren? Katar hat gerade noch mal klargestellt, dass auf Privatgrundstücken nicht gefilmt werden darf – angeblich, um die Privatsphäre der Bürger zu schützen. Ein Interview mit einem Arbeitsmigranten wird man aber kaum auf der Straße oder in einem Restaurant führen können.
 
Schneider: Das stimmt wohl, wobei ich mich auch noch nicht festlegen würde, wie massiv die Restriktionen vor Ort ausfallen werden. Klar ist aber, dass wir berichten, wie wir es immer tun, und wie es viele Kollegen auch tun: Indem wir transparent machen, welche Bedingungen dort herrschen – in dem Fall, dass es vom Regime verhindert würde, mit Oppositionellen oder ausgebeuteten Arbeitern zu sprechen.
 
sj: Noch eine private Frage: Mit welchem Gefühl packen Sie bald die Koffer, bevor Sie als Teil des SZ-Teams nach Doha fliegen?
 
Schneider: Puuuh, eigentlich ist es komisch, dass diese Frage immer nur Sportjournalisten gestellt wird. Die Kolleginnen und Kollegen aus dem Politikressort müssen jedenfalls nie ihre Gefühlswelt darlegen, bevor sie, ohne das jetzt gleichsetzen zu wollen, zu einem von Trump-Fans dominierten Parteitag der Republikaner aufbrechen oder im Neonazi-Milieu recherchieren. Also: Ich freue mich darauf, endlich mal wieder länger aus dem Büro zu kommen, vor Ort zu sein, direkte Eindrücke wiedergeben zu können. Das alles kommt im Alltag nicht nur bei uns oft zu kurz. Ansonsten bin ich da nicht als Fan, sondern als Journalist. Ich mache dort meine Arbeit.

Mit Martin Schneider sprach Christoph Ruf. Er arbeitet als Freelancer von Karlsruhe aus. Hier geht es zu Rufs Website.