Kolumne „Hardt und herzlich“

Geh’ mir weg!

01.09.2023

Mitteilungen im Minutentakt. Unser Autor Andreas Hardt fragt sich, ob die „Berichterstattung“ etwa im Fall von Harry Kane noch etwas mit Journalismus zu tun hat. 

 

Journalismus hat laut Wikipedia die Aufgabe, "Öffentlichkeit herzustellen und die Öffentlichkeit mit gesellschaftlich relevanten Informationen zu versorgen." Nun denn: "Der Privatjet mit Harry Kane an Bord ist in Stansted gestartet." Erleichterung, er kommt wohl doch.

Aber, ist das nun relevant? Also nicht, dass Bayern München tatsächlich für mindestens 100 Millionen Euro einen 30 Jahre alten Stürmer aus London verpflichtet hat, der im kommenden Jahr ablösefrei wäre. Sondern dass er in England abgehoben ist. Von Stansted! Mit einer Privatmaschine! Nach Oberpfaffenhofen! Harry Kane!

Wenn die Informationen stimmen, haben zweitweise knapp 69.000 Menschen die Flugroute Mitte August per Flighttracker-App live verfolgt. Mit klopfendem Herzen? Ist ja alles gut gegangen. Jetzt spielt er also für die Bayern. Hat ihn schon jemand "King Harry" genannt, in Abgrenzung zu dem verstoßenen Prinzen aus dem Hause Windsor? Ja? Nein? Kommt noch.

Das absurde Theater um den Einkauf des neuen Starstürmers beschäftigte im Fußball-Sommerloch diverse Medienmenschen, die sich überboten mit täglichen Meldungen zum Fortgang der Verhandlungen. Wie viel die Bayern geboten haben, warum Tottenham abgelehnt hat. Kane will, seine Frau schaut schon nach einer Villa, ist aber mit dem vierten Kind schwanger, Kane will nicht mehr, wenn..., Hoeneß mischt sich ein, Rummenigge küsst den Präsidenten von Tottenham ungefragt auf den Mund – muss man verstehen in der Euphorie – und gefährdet damit den Transfer, Kane verschüttet Orangensaft beim Frühstück, jetzt HIER das Video ansehen bei Plus gegen Gebühr, wir schalten um zu unserem Transferexperten an der Säbener Straße. (Hardt-Foto: privat)

Der Kollege Frank Lußem hat das ganze Theater in einem Kommentar für den kicker als einen "historischen Tiefpunkt und Abschied aus dem Sportjournalismus" genannt. Es ginge längst nicht mehr um das Transportieren von Fakten, sondern um Einschaltquote, um Klicks und  eine Selbstbeweihräucherung der beteiligten "Experten". Dieses Eisen musste im Feuer gehalten werde, so lange wie möglich. Und wenn es nichts Neues zu berichten gibt, dann kochen wir Altes neu auf.

Es hat Gründe, warum Sportjournalisten immer noch und immer wieder mal nicht wirklich ernst genommen werden. Die Nähe zum Objekt, das Gemeinmachen mit den handelnden Personen, das Mitfiebern mit dem eigenen Klub. Und so kommt es, dass  sich Menschen wundern, wenn, wie jüngst in Hamburg geschehen, der langjährige HSV-Reporter Kai Schiller eine berührende Reportage über die Opfer des Anschlages auf die Zeugen Jehovas im März schreibt. Das kann der? Aber ja! Das konnte der auch schon wie viele andere im Sportressort. Da fällt es nur weniger auf. Hat eigentlich Frau Kane schon entbunden?

Und die Hatz nach Nachrichten-Fastfood bleibt ja nicht auf Super-Giga-Monsterstars beschränkt, sondern setzt sich nach unten fort. Manch’ Verein wartet immer noch auf einen defensiven Mittelfeldspieler, dessen Medizincheck schon vor Wochen angekündigt war. Hat aber gut geklickt. Bei anderen steht der Abgang eines Nachwuchsstürmers unmittelbar bevor – wohin er geht, lest ihr hier.

Mittlerweile hat sich der Job des "Transferjournalisten" etabliert. Das sind Leute, die mit großer Beharrlichkeit soziale Netzwerke checken, sich Verbindungen aufgebaut haben. Die mit Beratern telefonieren, die sie auch gerne benutzen, um Interesse von Klub XY sowie aus Saudi-Arabien an ihrem Spieler vorzugaukeln. Das erhöht den Preis. Und machmal haben diese Leute sogar einen Treffer dabei und verkünden einen Wechsel, bevor es die Vereine tun. "Here we go!", meldet dann der wohl bekannteste Transferexperte Fabrizio Romano. 46,2 Millionen Menschen folgen ihm auf Instagram, auf X (vormals Twitter), auf Facebook, auf YouTube, auf Twitch, auf TikTok. Und im Pay-TV ist Sondersendung "Deadline Day", was geht noch heute?

Ist das Journalismus? Wägen wir ab nach Relevanz – oder transportieren wir Gerüchte, Klatsch und Tratsch? Rhetorische Frage, natürlich zweites. So lange die Einschaltquote stimmt. "Tor-Gala von Harry Kane", lesen wir nach zwei Treffern, davon ein Elfmeter, gegen Augsburg. "Gala", na klar.

Geht noch mehr? Ach geh’ mir weg!

Andreas Hardt, vormals Redakteur bei SID und dapd, arbeitet als freier Journalist von Hamburg aus. Er schreibt die Kolumne „Hardt und herzlich“ für den monatlichen Newsletter des Verbandes Deutscher Sportjournalisten. Hier gelangen Sie zu Hardts Xing-Profil.