Über den Einfluss von Medien auf Regeln und Sportarten

„Das Spiel ist immer schlauer“

01.03.2023

Das Beispiel Handball zeigt, was sich Verbände so alles einfallen lassen in der Hoffnung, telegener zu werden. sportjournalist-Autor Frank Schneller berichtet über den Sinn und Unsinn der jüngsten Entwicklungen.

 

In der Geschichte des Sports haben Weltverbände stets neue Regeln für ihre Disziplinen aufgestellt. Vor allem in den Ballsportarten. Doch werden diese dadurch auch attraktiver? Telegener? Medial wirksamer? Bei der Handball-WM der Männer rückten Neuerungen in den Fokus, die bei konsequenter Anwendung das Spiel erheblich beschleunigen und verändern – auch für die Sender eine Umstellung. Ist das alles sinnvoll?

80 Tore in einem Spiel! Wohlgemerkt: Tore, nicht Punkte! Hochgeschwindigkeitshandball ohne Atempause. Für niemanden. Ohne echten Anwurf. Rauf und runter. Hin und her. Action ohne Einhalt, „das große Gerenne“ (FAZ) auf Kosten von Abwehrphasen, Rhythmus- und Tempowechsel. Die jüngsten Regel-Eingriffe des Handballweltverbands (IHF) folgen einer Tradition: Viele Regeländerungen – ob im Fußball, beim Hockey, Tischtennis, Volley- oder Basketball – haben den Charakter des jeweiligen Spiels stark verändert. Die Sporthistorie ist voll davon.

Nur ein paar Beispiele: Die Drei-Punkte-Regel im Basketball. Die Aufhebung des Abseits, der fliegende Wechsel und die Selbstvorlage bei Frei- oder Einschlag im Feldhockey. Die Rückpassregel im Fußball. Epochale Eingriffe. Im Handball beschleunigte die „schnelle Mitte“ das Spiel einst entscheidend, der „siebte Feldspieler“ machte es noch wilder (Handballer-Foto: GES-Sportfoto/Marvin Ibo Güngör/augenklick).   

Und nun, neben einigen weiteren Neuerungen, auch noch das: eine zusätzliche Lockerung beim Anwurf nach Gegentoren. Musste man zuvor wenigstens noch kurz innehalten an der Mittellinie, müssen sich die Spieler dafür jetzt nur noch in einem vier Meter messenden Anwurfkreis befinden, sie können quasi durchsprinten. Ist dieser zusätzliche Turbo sinnvoll? Macht er Handball noch telegener? Muss das Spiel denn noch schneller werden? Noch rastloser? Sind inflationäre Trefferquoten wirklich attraktiver?

In Fachkreisen wird darüber im Zuge der zurückliegenden WM der Männer angeregt diskutiert, auch wenn die neue Variante dort nur phasenweise zur Anwendung kam. „Tempo ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug. Wenn ich das nicht beherrsche, kommt Wilde Sau‘ dabei raus“, warnt der mehrmals zum (Bundesliga-)Trainer des Jahres gekürte Kai Wandschneider. Die neuen Regeln polarisieren. Für manche sind sie Verschlimmbesserungen aus Schreibtischtäterstuben. Sie finden ein 29:27 interessanter als ein 43:41. Andere loben die nächste Beschleunigungsstufe als progressiv, zukunftsweisend.

Abseits fachlicher Debatten müssen sich auch die Medien umstellen. Liveticker werden zur echten Herausforderung. Primär aber sind die TV-Sender betroffen. Sie stehen unter anderem vor der Frage, ob Überfall- und Sprinthandball, sofern taktisch und konditionell anwendbar, automatisch eine attraktivere Präsentation ihres Produkts bedeuten.

Einer, der alle Perspektiven einnehmen kann, ist Handball-Legende und TV-Experte Heiner Brand. Der doppelte Weltmeister (1978 als Spieler, 2007 als Trainer) kritisiert die Entwicklung: „Wenn sich das nachhaltig durchsetzt und zu noch mehr rastlosem Tempohandball führt, wird das Spiel nur noch unübersichtlicher, dann häufen sich nicht nur die Fehler und Regelwidrigkeiten. Auch der Charakter des Spiels geht verloren. Taktische Versiertheit, raffinierte Technik und Tricks, vor allem aber geschultes Abwehrverhalten – all das wird leiden. Feinheiten gehen verloren.“

Ex-Bundestrainer Heiner Brand: „Viele werden die Regelauslegungen nicht mehr nachverfolgen können“

Brand bezweifelt, dass ein Spiel ohne Balance attraktiver ist für die Fans in der Halle und vor den Bildschirmen: „Viele werden die Regelauslegungen nicht mehr nachverfolgen können.“ Immerhin: Sein Publikum bei Sky dürfte in der Regel deutlich handball-affiner sein als die Zuschauer der Öffentlich-Rechtlichen. „Nur ein Bruchteil unserer Zuschauer hat einen unmittelbaren Bezug zum Handball, daher müssen wir das Spiel anders begleiten und aufbereiten als beispielsweise Sky, rund 75 Prozent müssen wir die Regeln noch nahebringen“, bestätigt Florian Naß.

Er kommentiert die Handball-Highlights für die ARD, kommt selbst aus der Sportart und ahnt: „Es wird für uns zunehmend schwieriger, denn vor allem für neues Publikum bleibt die Transparenz auf der Strecke. Viele schöne Szenen wirken nicht mehr nach oder gehen gar verloren. Unsere Regisseure hatten zuletzt riesige Probleme, vor allem mit Zeitlupen und speziellen Einblendungen. Auch die Wertigkeit der Treffer nimmt ab.“ Sein Urteil: „Unsere guten Quoten lagen nicht an den neuen Regeln, sondern an den Leistungen der DHB-Auswahl sowie ihrer Nahbarkeit. Die Dynamik des Spiels ist unabhängig von der Torquote. Aus TV-Sicht sind die neuen Regeln kein Vorteil. Sie wurden ohne Not eingeführt.“

Auch Markus Baur, Brands ehemaliger Spielmacher im DHB-Trikot und aktuell ZDF-Experte sowie Bundesligacoach in Göppingen, stellt fest: „Für uns hat sich im Rahmen einer Übertragung einiges geändert. Es geht wesentlich um den jeweiligen Moment auf dem Spielfeld, man muss ganz nah dranbleiben. Abschweifen geht nicht mehr.“ Dennoch fällt Baurs Urteil anders aus als das seines ehemaligen Trainers Brand: „Es passiert noch mehr, es fallen noch mehr Tore – das ist für die Zuschauer schon interessant, zumal ich finde, dass das Spiel einfacher wird, die Aktionen sind klarer.“ Insbesondere die Crews der Öffentlich-Rechtlichen müssten sich um- und darauf einstellen. Auch in der Vorbereitung auf eine Übertragung (Baur-Foto: GES-Sportfoto/Sörli Binder/augenklick).

Eurosport-Kommentator Uwe Semrau, der sämtliche Entwicklungen im Handball der vergangenen Jahrzehnte mitgemacht und auf mehreren Spartensendern präsentiert hat, glaubt noch nicht recht an eine radikale Veränderung des Spiels: „Klar, für uns Kommentatoren bedeuten neue Regeln meist auch eine neue Herangehensweise. Es dürfte sich aber herauskristallisieren, dass die große Hatz gar nicht durchgehalten werden kann angesichts der hohen Belastung durch die vielen Partien. Die jüngste WM hat es gezeigt: Das Gerenne war nur in bestimmten Phasen zu sehen, selbst die schnelle Mitte wurde nicht über-akzentuiert.“

Man werde die Neuerungen inklusive der neuen Zeitspielregel auch medial erst nach einer längeren Bundesliga-Phase beurteilen können. „Dann dürfte sich herausstellen, dass dagegen auch schon wieder taktische Gegenmittel entworfen wurden. Das macht die Sache doch aufs Neue spannend für uns Reporter und die Zuschauer“, sagt Semrau. Eine Überforderung des Publikums erkennt er nicht. Aus seinem Umfeld und in den Meinungsforen höre er immer wieder heraus: „Wir kommen bei den Regeln zwar nicht mehr so ganz mit, aber egal. Handball ist trotzdem geil.“

Naß wünscht sich dennoch, dass seine Zunft in den Entscheidungsgremien der Verbände gehört werden würde, bevor neue Regeln beschlossen werden: „Ich würde zu solch einem Workshop gerne mal eingeladen werden, um die Medien- und TV-Perspektive einfließen zu lassen.“ Theorie und Praxis würden so besser verknüpft, glaubt er.  

Man könnte auch Kai Wandschneider konsultieren. In der Diskussion rund um den Sprinthandball wird der beinahe philosophisch: „Die IHF hat natürlich ein Interesse daran, dass Uruguay und Co. nicht 11:28, sondern 23:42 spielen. Es ist mehr los, da, wo eigentlich gar nichts los ist. Das ist kurzweiliger. Dabei ist die Wahrheit am Ende doch: Egal, welche Modifikationen ausprobiert werden, das Spiel ist immer schlauer. Und gibt am Ende den Takt vor.“ Alles andere sei bei genauer Betrachtung doch nur „die organisierte Feier des Nichts – Zeitgeist eben“.

Frank Schneller, Jahrgang 1969 und Mitglied des Vereins Hamburger Sportjournalisten, ist selbstständig tätig. Er leitet in der Hansestadt das Redaktionsbüro Medienmannschaft.