Es war Spätherbst und ich gerade alt genug, dass mich meine Eltern allein mit einem Schulfreund ins Stadion gehen ließen. Wir schauten ins Hanappi, der Heimstätte des SK Rapid Wien, benannt nach dem Ex-Rekordnationalspieler und Architekten des Stadions, Gerhard Hanappi. Als wir nach Abpfiff zur U-Bahn schlenderten, umkurvte die Prozession inmitten der Straße einen Kerl, der Zeitschriften in die Luft hielt.
Die Leute lächelten ihm zu – so wie man einem Nachbarn zulächelt bei der viel zu langen gemeinsamen Fahrt im Aufzug. Ein Mann blieb stehen, gab dem Verkäufer ein paar Münzen (ich musste nachschauen: das Magazin kostete damals drei Euro) und bekam dafür ein Hefterl. Wenige Wochen später stand ich in einer Trafik – so heißen in Wien die Kioske, die Tabakwaren, Rubbellose und Zeitschriften verkaufen – und erkannte das Magazin wieder. Ich hielt zum ersten Mal einen ballesterer in der Hand.
Der ballesterer ist Österreichs einziges Fußballmagazin. Im März feierte es seinen 25. Geburtstag. Die Zeitschrift hat sich als kritische Stimme gegen die Verhaberung im österreichischen Fußball, der fehlenden Distanz zwischen Medienleuten und Funktionären etabliert. Als Herausgeber fungiert der "Verein zur offensiven Erweiterung des Fußballhorizonts", und treffender kann man gar nicht beschreiben, was der ballesterer macht. (Zahrer-Foto: privat)
Österreich ist ein kleines Land. Man sagt sich hier oft und gern, dass jeder jeden kenne. Das muss aber lange nicht bedeuten, so die Devise des ballesterer, dass das alles in günstiger Berichterstattung mündet. Das Herzstück des Magazins bilden Themenschwerpunkte über mindestens 16 Seiten: über große Vereine (von Borussia Dortmund bis Vorwärts Steyr), große Kicker (von Roberto Baggio bis Marko Arnautovic), oder gesellschaftliche Themen wie Fußball im Käfig, Fußball und HipHop oder #wetoo über Frauen in der Fankurve. Im Herbst ist eine Ausgabe zur Fußballstadt München geplant.
Jedes Heft glänzt mit großartig kuratierten Fotos, liebevollen Kolumnen wie dem "Wappenkammerl" oder einer Taktik-Analyse und kurzen Erlebnisberichten im "Groundhopping". "Gegründet wurde der ballesterer aus einer Unzufriedenheit mit dem vorhandenen Fußballjournalismus", sagt Nicole Selmer, die seit einem Jahr Co-Chefredakteurin des Magazins ist. Im Frühjahr 2000 erschien die erste Ausgabe, die Beteiligten kopierten noch händisch im Copyshop eine Auflage von 300 Stück. Zum Verkauf gingen sie vor Stadien.
Der Redaktion wird vorgeworfen, zu nahe an den Fankurven verortet zu sein und daher zu unkritisch über sie zu berichten. Ein Fußballmagazin von Fans bestimmter Vereine, kann das gutgehen? Ja, schreibt Co-Chefredakteur Moritz Ablinger in der April-Ausgabe. In einem Kommentar mit dem Titel "Die richtige Brille" argumentiert er, dass Fans im Regelfall "mit dem eigenen Klub am härtesten ins Gericht" gingen.
Ablinger: "Der Vorwurf, beim ballesterer dürften Fans über ihre Vereine und deren Rivalen schreiben, läuft ins Leere. Denn das ist Teil unseres Selbstverständnisses." Seit Gründung des ballesterer bestehe die Redaktion aus Fans. "Daraus ergeben sich besondere Blickwinkel", argumentiert Ablinger. Wer nur Kritik übe, indem auf den Lieblingsklub des Verfassers hingewiesen werde, "macht es sich zu leicht".
Das Fandasein der Autorinnen und Autoren mündet tatsächlich in Vorteilen, nämlich dann, wenn Texte Zugänge zu Ultragruppierungen finden, die sich sonst keinem anderen österreichischen Medium gelingen. Die kritische Berichterstattung gefällt nicht allen: Als einziger Bundesliga-Verein gestattet Red Bull Salzburg dem ballesterer keine Interviews.
Das Magazin pflegt eine liberale Ausrichtung, bezieht etwa klar Stellung gegen Homophobie und setzt sich für Integration ein. Mit seiner Themensetzung hat der ballesterer viel zur Aufarbeitung von Klubs mit ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus beigetragen. Die Serie "Fußball unterm Hakenkreuz" führte zu Folgerecherchen, die in Sachbüchern mündeten. "Der ballesterer hat den Sportjournalismus verändert", sagt Selmer: "Und wir sind überzeugt, dass es unsere Sicht auf den Fußball weiterhin braucht."
Beim ballesterer erzählen sie besonders gern (und zurecht) die Anekdote vom Finale der WM 2014. Auf der Pressekonferenz nach dem Spiel durfte der ballersterer-Reporter Robert Florencio dem deutschen Bundestrainer Joachim Löw die erste Frage stellen. Nicht ganz ernst gemeint fragte Florencio, ob der WM-Titel auch als Revanche für seine Entlassung als Trainer bei Austria Wien zehn Jahre zuvor zu verstehen war. Damals hatte der Klub Löw trotz Tabellenführung vor die Tür gesetzt, fünf Monate später wurde er Assistent unter Jürgen Klinsmann beim DFB, wo er später Cheftrainer wurde. In Rio antwortete Löw: "Nachbetrachtet war die Entlassung bei der Austria mein großes Glück."
Trotz all der Verdienste des Blattes wurde es vor fünf Jahren verdammt eng. Die 150. Ausgabe im April 2020 titelte mit "ballesterer brennt". Die eigene wirtschaftliche Schieflage wurde thematisiert: 200.000 Euro an Verbindlichkeiten hatten sich angehäuft, Stornos von Werbekunden beim Ausbruch der Corona-Pandemie deuteten auf den Todesstoß für das Magazin hin. Doch es folgte eine Welle an Unterstützung, von Promis, Unternehmen, Fangruppierungen. Nach wenigen Monaten hieß es: Brand gelöscht!
Spenden, frische Aboabschlüsse und ein neues Supporter-Modell sicherten das Überleben und ermöglichten eine Neuaufstellung. Heute liegt die Auflage des ballesterer, der zehn Mal pro Jahr erscheint, bei 20.000. Bis zu 40 Leute wirken an einer Ausgabe mit, die allermeisten als Freischaffende.
Zum Geburtstag hat das Magazin eine Wunschliste auf seiner Homepage veröffentlicht: Eine Geburtstagstorte. 500 neue Abos. 50 neue Supporter. Hilfe beim Revival des Stadionverkaufs. Und einen weiteren Punkt, der aber durchgestrichen wurde – wohl, weil er in Erfüllung ging: keinen Kanzler Kickl.
Übrigens: Ein Ballesterer ist ein Fußballspieler, und zwar meistens einer, der gar nicht so schlecht kicken kann.
Lukas Zahrer (32) aus Wien begann als Praktikant bei SPOX in Unterföhring. Seit Sommer 2020 arbeitet er für den Standard. Hier ist sein Profil auf Bluesky, hier geht es zu seiner LinkedIn-Seite.