In seiner Zeit als Kolumnist der einflussreichsten Zeitung des Landes war Robert Lipsyte ein kreativer, vitaler Autor, der eine Menge zu vielen Facetten im amerikanischen Sport zu sagen hatte. Es waren die Neunzigerjahre: Das Internet zog langsam, aber unwiderstehlich am Horizont herauf.
Doch im seitenlangen Sportteil, einem Kompendium aus Ergebnissen und Tabellen, Agenturmeldungen und ausführlichen Reportagen aus den Arenen und von bedeutenden Wettkämpfen rund um den Globus, konnten sich talentierte Schreiber noch hemmungslos ausbreiten. "Ein großartiges Jahrzehnt", erinnerte sich der 85-Jährige später. "Viel Spaß. Großartige Storys. Und sogar ein paar Auszeichnungen."
Es hätte nicht viel gefehlt, und Lipsyte hätte sogar einen Pulitzer-Preis gewonnen. Seine Kommentare über die Welt des Sports waren so feinsinnig wie das Feuilleton ein paar Seiten weiter. Er wusste allerdings, dass selbst solche Ehrungen seine Position im Wertesystem der Times-Blattmacher kaum verbessert haben dürften. "Es war ihnen immer ein wenig peinlich, einen Sportteil zu haben", sagte er vor ein paar Wochen in einem Interview dem New York Magazine. "Das war das einzige Ressort, in der man die erwähnten Personen nicht mit Mr. oder Mrs. anzureden brauchte. Internationale Nachrichten – das sind die Times. Sport ist nicht die Times."
Als journalistisches Beiboot besaß der Sportteil trotzdem jahrzehntelang eine erhebliche Aura und einen gewissen Zusatznutzen für den Leserstamm der Zeitung. Wohl auch, weil deren Macher, so Lipsyte, die Dynamik verstanden, "dass Sport über seinen Unterhaltungswert hinaus das amerikanische Leben widerspiegelt" und "tiefgründige Ansichten und Sichtweisen" bot, die durchaus "sehr wertvoll" waren.
Auch Konkurrenten erkennen die journalistische Leistung und deren Einfluss auf den Sportjournalismus an. "Der Sportteil der Times war kein traditioneller Sportteil", schrieb Barry Svrluga nach dessen Einstellung in der Washington Post. "Nicht mal annähernd. Und schon gar keiner für amerikanische Vollblut-Sportfans, die sich dafür interessieren, wer gewonnen und wer verloren hat. Ihre Stars waren ihre Autoren."
Seit Juli, als die Verantwortlichen mit dem noch ziemlich neuen Chefredakteur Joe Kahn an der Spitze ankündigten, diesem Sport-Ressort den Stecker zu ziehen, hatten die 35 betroffenen Reporter und Redakteure Zeit, sich an die seltsame Vorstellung zu gewöhnen, dass dies alles mit dem 18. September einfach komplett vorbei sein würde. Sie bekamen zwar nicht nach guter amerikanischer Sitte einfach den Stuhl vor die Tür gesetzt. (Im Bild: Letzter selbst produzierter NYT-Sportteil vom 18. September. Foto: NYT/Screenshot FAS)
Denn das wäre angesichts des geltenden Tarifvertrags mit der hauseigenen Gewerkschaft kaum durchsetzbar gewesen. Stattdessen wurden sie in andere Abteilungen eines Hauses versetzt, in dem inzwischen 3000 Medienarbeiter ein Produkt herstellen, das sich in den Neunzigerjahren noch niemand vorstellen konnte.
Ein Betrieb, der zwischendurch so schwer angeschlagen war, dass 2009 Gerüchte über einen bevorstehenden Konkurs aufkamen. Aber der seitdem einen bemerkenswerten Strukturwandel bewerkstelligt hat – weg von der anzeigenabhängigen Printausgabe, die einst eine Auflage von mehr als einer Million Exemplare pro Tag hatte, aber inzwischen nur noch von 300.000 Abonnenten gekauft wird; hin zu einer rund um die Uhr gefütterten Multimedia-Maschine mit Videos, Podcasts, Kochrezepten und Spielen. Ein Angebot, für das inzwischen mehr als neun Millionen Digital-Abonnenten Geld ausgeben, fast 20 Prozent von ihnen leben außerhalb der Vereinigten Staaten.
Auch was den Sport angeht, ist die New York Times nun keineswegs komplett abgetaucht. Er spielt in Zukunft vielleicht sogar eine größere Rolle. Das klassische Sportressort wird durch ein Informationsmodul ersetzt, für das der Verlag Anfang 2022 550 Millionen Dollar hingelegt hatte. Mit dem Kauf der aufstrebenden Plattform The Athletic erwarb man 1,2 Millionen Abonnenten und ein Team von 400 Journalisten, die sowohl das amerikanische als auch einen Teil des globalen Sportangebots einfangen.
Unter ihnen sind einige der prominentesten Namen der Branche, viele davon hatte The Athletic, 2016 mit üppigem Investorengeld aus dem Silicon Valley gegründet, aggressiv von etablierten Zeitungen abgeworben, auch mit dem Versprechen "das Netflix des Sports" werden zu wollen. Aufgrund der intensiven Expansionsbemühungen arbeitet man noch immer stark defizitär. Vor der Übernahme durch die Times lag der Jahresverlust im Bereich von 50 Millionen Dollar, nach dem Rauswurf von 20 Journalisten sank er auf etwas mehr als 30 Millionen. Eine Gewerkschaft gibt es bei The Athletic nicht.
Lipsyte hatte in Umrissen so etwas bereits kommen sehen, noch ehe die Times die Schließung des Sport-Ressorts öffentlich bekanntgab. Seine Einschätzung auf einer Podiumsdiskussion Anfang Juli reflektierte eine gesamtgesellschaftliche Tendenz. Sport sei "immer weniger, was er zu meiner Zeit war: ein Schmelztiegel und ein Ort, wo Jungs lernen, Männer zu werden. Es ist ein Aspekt der Unterhaltungsindustrie. Wie Marvel Comics und seine Superhelden."
Eine ähnliche Wehmut schlägt bei vielen seiner Kollegen durch. Der ehemalige "Times"-Sportkolumnist George Vecsey glaubt, das Aus für das Ressort beerdige die Idee, "dass eine fundierte Berichterstattung und ein eleganter Schreibstil das Verständnis für Sport erhöhen können" und "dass sie das Erlebnis, einen Wettkampf zu sehen, verbessern können, anstatt nur wiederzugeben, was jeder gesehen hat".
Am 18. September wurde in der Redaktion der New York Times “eine stille Mahnwache abgehalten. Anschließend protestierten Times-Journalisten bei einer Kundgebung gegen die "eklatante Gewerkschaftsfeindlichkeit" des Top-Managements. "Wir stehen heute auf, um das Unternehmen daran zu erinnern, dass wir nicht zulassen werden, dass der Vertrag, für den wir so hart gekämpft haben, untergraben wird. Und wir werden auch nicht zulassen, dass versucht wird, die Beschäftigten gegeneinander auszuspielen", sagte Gewerkschaftssprecherin Jenny Vrentas. Die 38-Jährige studierte Biologin und Football-Expertin ist als Sportredakteurin unmittelbar betroffen. (Im Bild: Erste von The Athletic produzierte NYT-Sportseite. Foto: NYT/Screenshot FAS)
Die Veränderungen bei der New York Times finden nicht in einem isolierten Rahmen statt. Anspruchsvoller Sportjournalismus erlebt überall in den USA Gegenwind, nicht nur, weil das auf Kabelfernsehlizenzen, Streaming-Einnahmen sowie auf der Werbeindustrie basierende Finanzierungsmodell von Ligen und Veranstaltern an wirtschaftliche Grenzen stößt.
Michael Socolow, Journalismus-Professor an der University of Maine in Bangor, sieht Probleme für die gesamte Medienbranche heraufziehen: "Wir erleben eine Evolution des gesamten Systems. Im Moment reden wir nur über Zeitungen und Zeitschriften."
Als einen der versteckten Treiber dieser Evolution hat der Experte für Sportmedien die dynamische Entwicklung von The Athletic mit ihrer hyperlokalen, aktuellen Berichterstattung ausgemacht. Verbunden mit der starken Marktposition der New York Times könnte diese neue Spielart des Sportjournalismus Konkurrenten überall in den USA massiv zusetzen. "Bis wir die ersten internen Analysen der Times sehen, werden wir nicht wissen, ob sich ihre Investition in The Athletic gelohnt hat", sagt Socolow, "aber wir wissen schon jetzt, dass dies die anderen Sportredaktionen in ganz Amerika erheblich unter Druck setzt."
Der hier veröffentlichte Text erschien am 22. September in der FAS. Jürgen Kalwa arbeitet als Sportkorrespondent mit Sitz USA für die FAZ, die Neue Zürcher Zeitung und den Deutschlandfunk. Er hat Bücher über Tiger Woods, Dirk Nowitzki und Lance Armstrong geschrieben. Zuletzt erschien sein Sammelband „Der Stoff, aus dem die Helden sind – 33 Sportreportagen, Essays und Interviews“ im Arete-Verlag. Seine Website finden Sie hier.