Die Berichterstattung von vor Ort wird immer seltener

Eine bedenkliche Entwicklung

01.09.2023

TV-Reporter kommentieren aus dem Studio, die Zahl der schreibenden Berichterstatter vor Ort nimmt ab. sj-Autor Christoph Ruf beschreibt eine bedenkliche Entwicklung im Sportjournalismus.

 

Alexander Zverev war genervt. Das Match gegen den Weltranglisten-116. Yosuke Watanuki hatte sich weitaus mühsamer als erwartet gestaltet. Und das auch, weil sein Analyse-Team es nicht für nötig befunden hatte, ihn auf die starken Aufschläge des Japaners hinzuweisen.

Dass es so und nicht anders war am 7. Juli dieses Jahres, weiß man allerdings nur, weil in London Journalisten vor Ort waren, die den Hamburger unmittelbar nach dem Match interviewten. Und die bekamen etwas zu hören: "Ich hatte ein bisschen einen Hals auf meine Box. Alle haben sich ein bisschen nach hinten gelehnt." Ein offiziell angefertigtes Zverev-Statement hätte stattdessen sicher die Wendung vom "erwartet schweren Gegner" beinhaltet, auf den man bestens vorbereitet gewesen sei.

Bei immer mehr Sportveranstaltungen hätten die Manager und Veranstalter alle Zeit der Welt, um Informationen und Aussagen zu selektieren. Weil entweder gar keine Kollegen mehr vor Ort arbeiten. Oder, weil sie das zunehmend vom Studio aus tun, was im doppelten Sinne die Perspektive einschränkt. Viele Streamingdienste und Pay-TV-Angebote sind nicht mehr vor Ort. Auch der BR und das ZDF berichten vom alpinen Ski oft aus München-Freimann respektive Mainz. Vorbei auch die Zeiten, als Sky noch ein Team in die Zweitliga-Stadien schickte.

Corona hat den Trend zum Pseudo-Live-TV noch mal beschleunigt. Und er hält an: So hat sich Dyn, das Portal des ehemaligen DFL-Vorstandschefs Christian Seifert und des Springer-Konzerns, die Rechte an der Handball- und der Volleyball-Bundesliga gesichert. Und setzt dabei auch auf die Mitwirkung der Klubs: Die Volleyball-Bundesliga produzierte in den vergangenen Jahren die Beiträge selbst, stellte Kameras und Kommentatoren. In der ebenso verzweifelten wie realistischen Einschätzung, dass kein Sender übertragen würde, wenn er die entsprechenden Kosten selbst tragen müsste. Man stelle sich die Aufregung vor, wenn CNN einen Beitrag über eine Joe-Biden-Rede senden würde, den die Demokraten produziert haben.

Selbst bei vergleichsweise populären Sportarten wie Eishockey sind nur noch wenige Journalisten vor Ort. "Die immergleichen drei, vier Kollegen aus den regionalen Medien im Umkreis", trifft der freie Journalist Sven Metzger beispielsweise bei den Adlern Mannheim. "Da die überregionalen kaum noch berichten, fehlt auch ein bisschen die journalistische Draufsicht auf die übergeordneten Themen", findet er. Jüngst, in München, hatte er den Eindruck, dass der journalistische Blick auch gar nicht mehr erwünscht ist: "Da saßen jede Menge vereinsnahe Medienvertreter auf den Arbeitsplätzen, die neutralen Journalisten aus dem Südwesten bekamen die Katzentische zugewiesen." Viele waren das im Übrigen nicht. (Metzger-Foto: Deutsche Ringerliga)

Viele Tageszeitungen können mit eigenem Personal sowieso höchstens noch beim nächstgelegenen Fußball-Erstligisten vorbeischauen. Alle anderen Sportarten bleiben nahezu unbeobachtet. Ausnahmen wie die Rheinpfalz, die taz oder das Neue Deutschland (ND), die – unüblich für Zeitungen dieser Größe – auch bei anderen Sportarten präsent sind, bestätigen die Regel.

"Wir profitieren da aber auch davon, dass die Pfalz eine Handball-Hochburg ist", sagt Rheinpfalz-Redakteur Udo Schöpfer, der "selbstverständlich" vor kurzem auch bei der Handball-WM war. "Handball boomt, aber viele andere Sportarten werden natürlich deutlich weniger abgedeckt als früher." Auch Oliver Kern vom ND konnte vergangenes Jahr zu drei Großveranstaltungen reisen, trotz zurückgefahrener Reisebudgets. "Aber ich finde es erschreckend, dass man von einer Schwimm- oder einer Volleyball-WM nichts mehr mitbekommt." Die wenigen Kollegen, die noch vor Ort seien, interessierten sich zudem oft ausschließlich für die Athleten aus ihrem Verbreitungsgebiet. Von einer umfassenden journalistischen Begleitung könne also selbst bei Großveranstaltungen keine Rede mehr sein.  

Auch im Fußball haben sich viele Redaktionen seit Corona daran gewöhnt, von den Klubs mit Bildmaterial und Videosequenzen versorgt zu werden. Das ist mehr als bedenklich, zumal die Bundesliga mit ihren aufgeblähten Social-Media-Abteilungen und Vereins-TV-Sparten längst vielerorts ein eigenes Medienimperium aufgebaut hat, gegen das die klassischen Medien nur bestehen können, wenn sie ihre Unabhängigkeit nachweisen. Doch stattdessen geht vielerorts die Unmittelbarkeit der Berichterstattung verloren. Und damit die Möglichkeit, unkontrolliert und unzensiert zu berichten. (Kern-Foto: privat)

Anders muss die Bewertung bei den kleineren Sportarten ausfallen: Wer wollte den Verantwortlichen im Volleyball schon einen Vorwurf daraus machen, dass sie als Notwehrakt selbst produzieren? Zumal ja nicht nur die Redaktionen in den vergangenen Jahren arg ausgedünnt wurden. Als Kern vom ND jüngst beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) anrief, um zu erfahren, welche freien Journalisten sich für die WM in Budapest akkreditiert hätten, nannte man ihm zwei Namen.

Dass Freelancer ihre Unkosten in aller Regel selbst tragen und sich das zunehmend weniger leisten können, öffnet ein weiteres Einfallstor für eine mögliche Manipulation der Berichterstattung. Das großzügige Angebot von Katar an jeden Verband, bei der Handball-WM 2015 Freelancer benennen zu dürfen, für die der Wüstenstaat Unterkunft und Anreise übernimmt, war bislang das prominenteste Beispiel einer sanften Korrumpierung journalistischer Arbeit durch einen Veranstalter.

Es wird nicht das letzte sein. Und es wird nicht auf die Freelancer beschränkt bleiben.

Christoph Ruf arbeitet als Freelancer von Karlsruhe aus. Hier geht es zu seiner Website.