Manchmal braucht es ziemliche Selbstdisziplin, sein Wissen zurückzuhalten. Dass sich der FC St. Pauli am 6. Dezember von Trainer Timo Schultz trennen würde, das wusste der MillernTon zum Beispiel schon Tage vor der offiziellen Verkündung durch den Klub. „Wir sind eben gut vernetzt“, sagt Maik Krükemeier, einer der beiden bezahlten Mitarbeiter des Internetmediums, das sich von einem Hobby-Blog rund um den populären Fußballverein aus Hamburgs Mitte zu einem populären und seriösen Informationsorgan gemausert hat.
Dass eine so exklusive Info nicht sofort rausgefeuert wird, ist der Historie und dem Selbstverständnis des Blogs geschuldet. Und dem Verhältnis zum Verein. „Wir haben uns selbst auferlegt, bei Personalien zu warten, bis der Klub etwas offiziell mitteilt, auch wenn wir manche Dinge früher erfahren und uns so vorbereiten können“, sagt Krükemeier. So erscheinen aufwändige Porträts und Profile neuer Spieler häufig schon kurz nach der Pressemitteilung, wenn Otto-Normal-Journalist noch bei transfermarkt.de deren vorherige Stationen checkt.
Vereinshörige Fan-PR aber ist das alles nicht. Der MillernTon geht kritisch um mit den Entscheidern vom Millerntor und hinterfragt oft genug deren Ideen, Ansätze und Taktiken oder Personalplanungen. Die Medienabteilung des Vereins unterstützt mit Pressekarten und Einladungen zu Pressekonferenzen, versucht auch Spieler für Podcastfolgen zu vermitteln, lädt den MillernTon aber nicht zu Hintergrundgesprächen und Ähnlichem ein. Das ist noch den „klassischen“ Medien vorbehalten.
Wenn aber nicht alles täuscht, erleben wir hier gerade einen Wandel in der Mediennutzung und Anerkennung. Auch in Kaiserslautern, Dortmund oder München gibt es sehr professionell arbeitende Medien, die der Fanszene entstammen. Bei den Fans genießen diese Medien eine extrem hohe Glaubwürdigkeit – sie wirken nicht vom Interesse nach Auflage geleitet, sondern scheinen dem Wohlergehen des Vereins und der Mannschaft verpflichtet (Foto Maik Krükemeier, links, und Tim Eckhardt: privat).
„Unsere Zielgruppe ist natürlich anders als bei den herkömmlichen Medien, wir richten uns ausschließlich an das St.-Pauli-Umfeld und berichten auch nur über den FC“, sagt Tim Eckhardt, der einzige Vollzeitjournalist in der MillernTon-Redaktion: „In diesem Umfeld sind wir jedoch das reichweitenstärkste Medium.“
Rund 250.000 Views zählen sie pro Monat bei über 100.000 Nutzern. Der MillernTon wird längst als Quelle von Agenturen und Reportern herangezogen. Vor allem auch, weil sich Eckhardt einen Ruf als herausragender Taktik-Analytiker und Daten-Nerd erschrieben hat, der Spielformationen, Stärken und Schwächen von Profis und Mannschaften anhand von Statistiken erklären kann. „Solch fundierte Fragen habe ich in einer Pressekonferenz noch nie gehört“, sagte im Herbst Trainer Torsten Lieberknecht von Darmstadt 98, „wir müssen uns mal genauer unterhalten.“
Eckhardt wagte Anfang des vergangenen Jahres den Sprung vom Hobbyjournalisten zum Profi. Der 36-Jährige gab dafür seinen Job als Naturwissenschaftler und Experte für Permafrost auf. Neben seiner Arbeit für den MillernTon hat er schon für bundesliga.de oder 11FREUNDE geschrieben. „Möglicherweise kommt meine Affinität zu Daten aus der Wissenschaft“, sagt der Vater dreier Kinder.
Durch die Vielzahl an Unterstützern ist der MillernTon recht breit aufgestellt und nicht von Einzelnen abhängig
Der gelernte Reiseverkehrskaufmann Krükemeier, 46, arbeitet auf halber Stelle für den MillernTon und Teilzeit in der Erwachsenenbildung sowie als Trainer. Beide haben mit zwei Mitstreitern im Februar 2022 eine GbR gegründet, an der sie Anteile halten und von der sie ihr Gehalt beziehen. Professionelle Bedingungen für ein Hobby zu schaffen, das immer mehr Zeit gebraucht hat, war ein Grund für den Sprung ins kalte Wasser.
„Wir finanzieren uns durch zwei Säulen“, erklärt Krükemeier, „das eine sind Beiträge oder Spenden von Unterstützern. Jeder kann so viel geben, wie er mag oder sich leisten kann. Das andere sind Anzeigen.“ Durch die Vielzahl an Unterstützern ist der MillernTon recht breit aufgestellt und nicht von Einzelnen abhängig. Zu Reichtum bringt man es mit diesem speziellen Medium aber nicht. Durchschnittlich 4000 Euro beträgt die Einnahme pro Monat.
Seit August 2018 ist der MillernTon online. Rund 20 Leute arbeiten unterschiedlich intensiv mit. Es gibt einen Blog, Twittermeldungen, Facebook, Vor- und Nachberichte zu den Spielen mit Fans der gegnerischen Klubs sowie die „tägliche Lage am Millerntor“. Und es gibt den monatlichen Podcast, bei dem Personen oder Gruppen aus dem St.-Pauli-Umfeld eingeladen werden (Logo: MillernTon).
Der Durchbruch in der Aufmerksamkeit und Akzeptanz war das Projekt „Being Timo Schultz“. Während der gesamten ersten Saison als Cheftrainer 2020/21 hat der MillernTon den Coach begleitet und in dieser Zeit 22 kurze Gespräche mit Schultz geführt. Dieser gewährte dabei Einblicke in seine Arbeit und seine Befindlichkeiten, die es sonst nirgendwo gab. In vier Folgen wurden die Gespräche sowie Highlights der Spiele aus Radioübertragungen zusammengefasst.
Besondere Beachtung fand auch die Gesprächsrunde nach den massiven Pyro-Vorfällen im Zweitliga-Derby am Millerntor gegen den HSV im März 2019. Dort haben Ultras, die normalerweise mit Medien nicht reden, ihre Sicht der Dinge dargestellt. „Die Klickzahlen dieser Sendung sind explodiert“, erzählt Krükemeier, „wir hatten ein sehr positives Feedback. Leute sagen, sie hätten danach besser verstanden, warum die Ultras ihre Aktionen machen.“
Auch die Augenzeugenberichte nach den konfliktreichen Spielen des FC St. Pauli bei Hansa Rostock fanden große Resonanz, vor allem aber die Reportage über gewalttätige Übergriffe einzelner Bundespolizisten vor dem bislang letzten Derby gegen den Hamburger SV vor dem Millerntorstadion.
Mit den jugendlichen USP-Fans, die überwiegend in der Südkurve stehen, haben die Leute vom MillernTon keine personellen Überschneidungen, sie eint aber die Begeisterung für den Verein. „Wir gehören doch überwiegend der Generation 30 plus an, stehen oder sitzen inzwischen überwiegend auf der Gegengerade, ich mit Frau und Kind“, sagt Krükemeier.
Anfang 2022 sind Eckhardt und er in den Verein Hamburger Sportjournalisten eingetreten. An ihrer professionellen Arbeit gibt es keine Zweifel. „Die Anerkennung ist inzwischen deutlich gewachsen“, sagt Eckhardt, „am Anfang wurden wir oft vor allem als Fans wahrgenommen, die so ein bisschen Journalisten spielen. Das ist nicht mehr so.“