Kolumne „Hardt und herzlich“

Man glaubt das alles nicht

04.01.2023

Unser Kolumnist Andreas Hardt blickt zurück auf das Sportjahr 2022 und stellt ernüchtert fest, dass Sportswashing leider doch funktioniert.

 

Ende Dezember ist immer die Zeit der Jahresrückblicke. Ernsthafte, humoristische, feuilletonistische und bildergestützte – auf und in zahlreichen Sendern, Medien und Kanälen. Dabei ist der Sport auch immer ein wichtiges Thema, die Menschen interessieren sich dafür. Ist so.

Die meistgesehene Fernsehsendung 2022? Richtig: Das Finale der Fußball-EM der Frauen zwischen England und Deutschland verfolgten 17,9 Millionen Menschen am Bildschirm. Lediglich 17,5 Millionen sahen das letzte Vorrundenspiel der deutschen Männer bei der WM in Katar gegen Costa Rica (Foto YouTuber Rezo: YouTube/Rezo).

Die Mannschaft, die nun nicht mehr „die Mannschaft“ heißt, hat ein Problem. Erst kürzlich hat der relativ neue Nationalspieler Niclas Füllkrug festgestellt, wie gering die Begeisterung für das und die emotionale Nähe zum Männer-Nationalteam im Land sei. Aus Bremen ist er rückhaltlose Unterstützung gewohnt, die gibt es für das DFB-Team schon länger nicht mehr. Wäre das Interesse am Nationalteam wirklich tief und durch alle Generationen verbindend groß, dann hätte der YouTuber Rezo neben seiner Katar-Kritik längst auch ein Video „Die Zerstörung des DFB“ online gestellt. Hat er aber nicht.

Der DFB hat nun einen Expertenrat zusammengestellt, um einen Weg aus der Krise zu weisen, einen Stimmungs- und Strukturwandel zu schaffen. Gute Idee – doch dann kommt da eine Gruppe alter weißer Männer: Völler, Sammer, Rummenigge, Kahn, Mintzlaff und Watzke. Na dann, gutes Gelingen! Und wo sind eigentlich Reiner Calmund, Mario Basler und Stefan Effenberg? Man glaubt das alles nicht.

In England haben die Zuseher der BBC die Katar-WM übrigens zur besten der 2000er-Jahre gewählt. Das mag bezogen auf den Sport stimmen, nicht nur das Finale war schließlich unglaublich. Die Umfrage zeigt aber auch, dass Sportswashing funktioniert – die unerfreulichen Begleitumstände dieses Turniers, in dem der heilige Messi Wunder wirkte, werden bald vergessen sein. Vor allem in Marokko und Argentinien.

Apropos Argentinien. Mein WM-Held ist Matthias Ebert. Der ARD-Korrespondent hat sich mitten hinein in die feiernden Menschenmengen in Buenos Aires begeben, unter diversen Bierduschen und Frohsinnsattacken sollte er Zeugnis geben von der Stimmung im Land des neuen Titelträgers (Hardt-Foto: privat).

Die Älteren unter uns erinnern sich dunkel: Auch bei der WM 2006 standen regelmäßig Reporter mitten in deutschen Fanzonen, umkreist von Anhängern mit schwarz-rot-goldenen Accessoires, die hüpften, durchs Bild liefen und dem TV-Mann mit zwei Fingern Hasenöhrchen zauberten. „Tolle Stimmung hier in (setzen Sie den Namen einer beliebigen Großstadt ein).“ Diesmal: nichts. Und das lag eben nicht nur am Winter.

Dennoch war es ein tolles Sportjahr. Und dass der Fußball begeistern kann, haben nicht nur die DFB-Frauen gezeigt, sondern auch die Europa-League-Sieger von Eintracht Frankfurt. Winter-Olympia, Leichtathletik-WM und die Mega-Europameisterschaften in München, dazu noch die Basketball-EM im eigenen Land – es war viel geboten und vieles war super.

Wer aber Ende Dezember bei ZEIT ONLINE das „letzte Sportquiz des Jahres“ anging, der stellte wahrscheinlich fest, dass er so viel gar nicht weiß von all dem, was nicht Fußball ist. Und geht vielleicht mit guten Vorsätzen ins neue Jahr.

Andreas Hardt, vormals Redakteur bei SID und dapd, arbeitet als freier Journalist von Hamburg aus. Er schreibt die Kolumne „Hardt und herzlich“ für den monatlichen Newsletter des Verbandes Deutscher Sportjournalisten. Hier gelangen Sie zu Hardts Xing-Profil.