Kritische Stimmen zur Wahl der „Sportler des Jahres“ 2022

Gleiche Chancen für alle?

04.01.2023

Die Basketballer waren verärgert, weil sie bei der alljährlichen Sportler-Wahl nicht berücksichtigt wurden. Frank Schneller geht nicht nur deshalb der Frage nach, ob die deutschen Sportjournalist*innen bei ihrem Votum auch tatsächlich alle infrage kommenden Sportler*innen und Mannschaften angemessen berücksichtigen.

 

Auf den Prunk folgte der Stunk. Die Feierlichkeiten zur Sportlerwahl des Jahres 2022 waren kaum abgeklungen, da machten sich Ärger und Enttäuschung breit rund um die Abstimmung der mehr als 3000 Mitglieder des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS). Gina Lückenkemper, Niklas Kaul, Eintracht Frankfurt – Leichtathletikstars der diesjährigen grandiosen EM-Tage von München und Frankfurts Helden, die mit ihren Auftritten in Europa wie kein zweites Team die Fußballfans hierzulande verzückt und vereint hatten. Was also ist so falsch an diesem Voting?

Die Antwort lieferte der Deutsche Basketball-Bund (DBB) prompt – und schürte damit neuerliche Diskussionen um die traditionsreiche Wahl: Seine Korb-Riesen, im Sommer gefeierte Bronzemedaillengewinner bei der Heim-EM, tauchten nicht nur nicht in der Rangliste der besten 20 Mannschaften auf – sie standen auch nicht auf der Vorschlagsliste der Internationalen Sport-Korrespondenz (ISK). Das hatte DBB-Präsident Ingo Weiss „sprachlos und irritiert“ zurückgelassen. Und nicht nur ihn. „Da hat ein Praktikant die Liste zusammengestellt“, sagt André Voigt. Dabei seien die Basketballer schlicht vergessen worden.

Sportjournalist Voigt ist Basketball-Experte. Die Sportart sei in Deutschland noch immer unterrepräsentiert, urteilt er. Auch daran habe der Fauxpas gelegen. Die ISK entgegnete: Auf den ersten Blick würden die Erfolgreichsten gewinnen, „aber die Wahl-Präambel enthält deutliche Hinweise, dass nicht allein Tore, Zentimeter und Zehntelsekunden den Ausschlag geben.“ Gesucht werde mehr denn je das Vorbild, eine Persönlichkeit des Sports. Ausgesprochen erfolgreich natürlich, aber auch durch Haltung und Charakter aufgefallen. Nicht selten würden Randsportarten die telegenen Disziplinen und Stars auf die Plätze verweisen. So die Theorie (Basketball-Foto: sampics Photographie/ Christina Pahnke/augenklick).

In der Praxis aber gewinnen meist die medial omnipräsenten Stars und Sportarten. Auch ISK-Chef Klaus Dobbratz stellte dies fest, als er auf die kritischen Stimmen antwortete, Gold- und Silber-Erfolge hätten eben doch Priorität. Dass das Prozedere „vielleicht nicht optimal gelaufen“ sei, räumte er ein. Allerdings: Die ISK schlägt nur vor, abgestimmt wird am Ende von den deutschen Sportjournalist*innen, die ihr Votum geben können, wem sie wollen – auch wenn er oder sie nicht in der Vorschlagsliste auftauchen.  

Doch wenn es nicht mal die (temporär auch medial) erfolgreichen Basketballer auf die Bühne schaffen. Was ist dann erst mit jenen Heldinnen und Helden im Verborgenen, abseits der Schlagzeilen und Kameras? Jene, die dennoch große Taten vollbringen, nicht selten unter schwersten Bedingungen?

„Welche Sportler*innen haben sich vielleicht auch abseits des Feldes, der Arena verdient gemacht?“

Die Kritik nimmt zu. Julia Hollnagel, Sprecherin von Athleten Deutschland e.V., bemängelt den erdrückenden Einfluss der TV-Präsenz als Wahl-Faktor und stellt zudem die Definition von Erfolg grundsätzlich in Frage: Medaillengewinne in publikumswirksamen Sportarten bei Großveranstaltungen seien zwar die am leichtesten messbare Größe, auch spreche sie niemandem ab, die Auszeichnung nicht verdient zu haben. „Ich würde mir aber wünschen, dass man das aufbricht und sich fragt: Welche Sportler*innen haben sich vielleicht auch abseits des Feldes, der Arena verdient gemacht? Hierfür könnte man ganz transparente Kriterien festlegen.“

So hätte, sagt Hollnagel, 2021 zum Beispiel auch Nike Lorenz eine Chance gehabt – „nicht nur als sensationelle Hockeyspielerin, sondern weil sie sich auch ganz klar für unsere gesellschaftlichen Werte eingesetzt hat, indem sie durchsetzte, die Regenbogenbinde bei den Spielen in Tokio tragen zu dürfen“. Durch die Fixierung auf die Medaillen präsentiere sich der Sport veraltet und wenig attraktiv: „Höher, schneller, weiter – diese Werte allein ziehen nicht mehr. Ich wünsche mir, dass Athlet*innen sich auch als Persönlichkeiten ganzheitlich entfalten können und dass das entsprechend gefordert und gefördert wird – auch von den Medien.“

Hans-Joachim Lorenz, Vizepräsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG), unterstreicht das und liefert ein weiteres Beispiel für die Chancenlosigkeit von Randsportarten: „Die über alle Sportarten hinaus erfolgreichste deutsche Mannschaft, die Wasserballer von Spandau 04, tauchen seit Jahren nicht mehr auf. 37-mal Meister, 32-mal Pokalsieger, international erfolgreich – jedoch völlig außer Acht“ (Wasserball-Foto: GES-Sportfoto/Markus Gilliar/augenklick).

Der frühere ARD-Journalist eröffnet eine weitere Diskussion: Was mit den paralympischen Leistungen sei, fragt er sich: „Ist die separate Wahl noch zeitgemäß oder muss man nicht in neuen Kategorien denken – und wählen?“ Dazu sagt Hollnagel: „Zwei Ehrungen sind durchaus sinnvoll. Aber ich verstehe nicht, warum das zwei separate Veranstaltungen sein müssen. Bei der Zusammenlegung hätten die Para-Sportler*innen eine viel größere Bühne. Außerdem wird diese Veranstaltung auch im ZDF übertragen. Diese Sichtbarkeit haben die Para-Athlet*innen auch verdient. Eine Zusammenlegung wäre wirklich inklusiv.“

Medienexperte und Sportwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Horky sieht diese Trennung ebenfalls problematisch: „Schon sprachlich ist die Spaltung nicht förderlich, auch wenn den paralympischen Sportlerinnen und Sportlern damit wohl eine größere Aufmerksamkeit und Siegeschance zukommt.“ Er begegnet der Wahl schon an einem viel grundsätzlicheren Punkt kritisch: Kolleginnen und Kollegen sollten „den Gegenstand der Berichterstattung nicht auf ein Podest heben, dies kann eine kritische Berichterstattung beeinflussen. Sich nicht mit der Sache gemein zu machen heißt es im Journalismus. Diese Wahl aber ist eine zu große Nähe zum Berichterstattungsobjekt. Es ist in Ordnung, die Besten des eigenen Berufstandes zu küren – aber nicht Sportlerinnen und Sportler.“ Manche Reaktion rund um das DBB-Team stützt diese These.

Die Wahl ist laut Horky „ein sich selbst bestärkendes System. Die Siegerlisten lesen sich wie das Who is Who der olympischen Medaillen oder erfolgreichen Fußballteams.“ Sein Fazit: „Natürlich ist die Auszeichnung als Sportlerin’ und Sportler des Jahres’ meist sehr berechtigt. Aber ist sie auch sinnvoll?“ Jüngste Meinungs-Recherchen in der Szene jedenfalls geben deutliche Hinweise darauf, dass zumindest eine Modernisierung des Konzepts diskutabel ist.

Frank Schneller, Jahrgang 1969, ist selbstständig tätig, er leitet das Hamburger Redaktionsbüro Medienmannschaft.